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XI

Wir, das heißt die Mulattin, die ehemalige Amme der Portugiesin, und ich, als ihr Arzt, verstanden lange nicht, was das gestammelte Wort bedeutete. Endlich erfaßten wir es, es hieß Wein. Es dauerte keinen Augenblick und ich besorgte statt des Champagners eine Flasche milden, goldgelben Weins. Aber sie schüttelte nur das Köpfchen, erbrach sich mühsam und, schon halb genommen, wiederholte sie ihren Wunsch mit erlöschender Stimme. Endlich begriffen wir. Sie wollte Weintrauben. Es kann ja sein, daß der Saft frisch ausgepreßter Trauben so über alles mild, süß, so sanft für ihre von der Oberhaut entblößte Zunge war – oder auch nur, daß sie sich dies jetzt so vorstellte. Warum auch nicht? Vielleicht war sie bei ihrem Aufenthalte in der Schweizer Erziehungsanstalt einmal gelegentlich einer harmlosen Erkrankung mit dem ausgepreßten Saft frisch gepflückter Trauben gelabt worden, die dort in den sonnigen Teilen der Schweiz, besonders im Waadtlande gut gedeihen. Aber hier, beinahe unter dem Äquator?

Aber sollte es ganz unmöglich sein, solche Früchte aufzutreiben? In der Wirtschaftsabteilung des Lazaretts schüttelte man bloß den Kopf über diesen ausgefallenen Wunsch. Es bedurfte meiner bis aufs äußerste angespannten Energie, daß man wenigstens den Versuch machte, von dem Obst- und Gemüsemarkte Weintrauben herbeizuschaffen. Was half es? Alles wurde angeschleppt, nur nicht Wein. Riesige gelbe Mangopflaumen, die wie Kalvilleäpfel aussahen, und aus deren zerrissener, geplatzter Schale einige dicke, klebrige Tropfen quollen wie Harz aus einer Rinde. Gute Sache. Herrliches Obst. Wir mischten den ausgepreßten Saft mit Eisstückchen, aber das Kind wollte ihn nicht. Wir brachten das frische, landesübliche Zuckerrohr, mandelgrüne, etwas holzige, faserige, ellenlange Stangen, die einen sonderbaren, vielleicht am ehesten mit Wein vergleichbaren Duft an sich hatten und die von der einheimischen Bevölkerung bei jeder Gelegenheit genossen werden, da sie durststillender sein sollen als jedes alkoholische Getränk und dennoch die körperschwächende Schweißabsonderung nicht zu sehr vermehren. Sie wollte nicht. Sie begann zu weinen. Es begann aus ihrer Brust und Kehle ein unnatürliches, langgezogenes Weinen zu dringen, wie es müde Babys aus ihren schlaff herabhängenden, speichelnden Lippen entlassen, wenn sie der Welt und des Lebens müde sind, bevor sie diese noch in ihrer ganzen Herrlichkeit kennengelernt haben. Dieses Geschluchze setzte sich mir in das Ohr, schauerlich. Es war nicht das Weinen eines halberwachsenen Menschen. Es war das vielleicht seelenlose, maschinenmäßig abrollende, aber deshalb um so ergreifendere Schluchzen eines ganz kindlichen Wesens. Das Herz krampfte sich vor Bitterkeit zusammen. Was hätte man nicht alles getan, um wenigstens dieses Weinen beenden zu können? Also noch mehr Früchte aus den paradiesischen Gärten. Wir brachten ihr große westindische Bananen, die hier nicht den faden Geschmack der nach Europa unreif importierten Frucht haben, sondern nach Bienenhonig und Gewürznelken schmecken. Sie öffnete den Mund nur, wie wenn sie sich übergeben mußte, aber sie wollte weder die Bananen noch auch frische, bläuliche, mit weißem Reif angehauchte Datteln, hier in dem tropischen Klima eine Seltenheit, die zu verschaffen die Oberschwester des Hauses sich große Mühe gegeben hatte. Wir boten ihr Ananas, frisch aus den Beeten vor der Stadt am Morgen gepflückt, noch im Kranze ihrer stachligen, saftgrünen Blätter. Mit einem silbernen Messerchen schnitt die Mulattin sie durch. Ihr selbst rann, grotesk mitten in all dem Jammer, der Speichel vor Appetit von den wulstigen Negerlippen, denn sie hatte seit den letzten achtundvierzig Stunden nichts zu sich genommen, so sehr war sie von der Sorge um ihren Liebling erfüllt. Aber auch mit den frischen Ananas hatten wir kein Glück.

Durch Zufall war auch eine schöne Blume mitgekommen, eine wilde Waldorchidee von köstlichem, vanilleartigem Duft, von himmlischem Farbenzauber in den langen, fahnenartig niederhängenden, lila-rosaroten Blättern und den feuerstrahlenden, safrangelben, strotzend gefüllten Fruchtstempeln.

Dieses eingesunkene Auge sah nichts mehr von den Herrlichkeiten dieser fürchterlichen Welt.

Am schrecklichsten war es, als wir alles Erdenkliche herbeigebracht hatten und nun nichts mehr an Neuem zu bringen hatten.

Das monotone, ziehende, nicht enden könnende Schluchzen erfüllte den kleinen, beengten, schwülen Raum, nur unterbrochen von dem Schwirren der Insekten, die von dem penetranten Obstgeruch herbeigelockt waren und welche die arme, wehrlose Kranke so belästigten, daß man die Früchte forttun mußte. Die Mulattin, zwar ein »liebendes Herz« erster Güte, aber eine nur mittelmäßige Krankenpflegerin und an Ordnung nicht zu gewöhnen, schleuderte einen Teil der Früchte aus dem Fenster in den Hof, wo sie klatschend niederfielen. Die Oberin trat ein und sandte ihr einen strengen Blick zu. Die Mulattin errötete und warf den Rest der Herrlichkeiten in einen Kübel. Auch sonst herrschte nach Ansicht der Oberin nicht soviel Ordnung als notwendig gewesen wäre. Mürrisch machte sich die Mulattin an die Arbeit. Die Hitze war schauerlich.

Jetzt mischte sieh der verfaulte Fleischgeruch der Krankheit, der aus dem lieblichsten Munde drang, den ich Zeit meines Lebens gesehen, mit dem Dufte der schnell welkenden Orchidee, der wir kein Wasser gaben, denn wozu sollte sie leben, wenn das Kind sterben mußte.

Rettungslos und Arzt, – selbst Gott findet keinen Reim darauf, habe ich einmal gesagt. Aber jetzt in meiner Verzweiflung klammerte ich mich daran, es müsse »bei Gott« einen Ausweg geben, eine gewaltsame Handlung, etwas Ungeheures, das die Welt aus den Angeln heben müßte – zu ihrer Rettung. Torheit! Wahn! Es war nur der Größenwahn der Verzweiflung in mir. Sonst nichts. Das Thermometer konnten wir an der Kante des Tischchens zerschlagen, das Fieber blieb. Wir sahen zu und schwiegen.

Walter erschien und daß er nur da bei ihr stand, gab mir einen Funken Hoffnung. Hatte ich nicht mit Recht immer zu ihm emporsehen dürfen, hatte ihm Kräfte zugetraut, die ich mir selbst nicht zugetraut hatte? Er war für mich der europäische Typus des genial praktischen Menschen, dem Leben gewachsen, unsentimental, aber hilfreich und human, er war, mehr als ich, der natürliche, helle Menschenverstand, die hohe Summe allen ärztlichen Wissens und Könnens. Er repräsentierte den klaren, die Wechselfälle der Natur beherrschenden Geist, das Ingenium des großen Arztes. Aber er setzte jetzt nur mit seinem Vierfarbenbleistift, den er als Linkshänder am liebsten mit der linken Hand führte, die Temperatur mit einer roten Schrift, den Puls mit einer blauen in die Krankentabelle ein. Und während diese beiden Linien die rhythmisch gegliederten Konturen einer steilen Welle mit immer höherem Ausschlag aufwärts nachzogen, sank die Kurve der Urinausscheidung, schwarz, mit jeder neuen Aufzeichnung tief und tiefer.

Die Vergiftung stieg. Die Entgiftung sank. Sie war mit schwarzen Linien angezeichnet. Sie wies wie ein nach unten deutender Finger nach dem Grunde.

Am Abend dieser Tage (ich wußte endlich nicht mehr, wie lange dieser Zustand angehalten hat und ob das Schluchzen und Würgen, Fiebern und Verfallen drei Stunden oder drei Tage angedauert hat) am Abend eines dieser Tage fragte mich Walter, ob ich schon die übliche Blutprobe gemacht hätte. Eine Blutprobe? Was sollte sie helfen können? Warum sie dann machen? Bloß des Wissens wegen? Bloß der klinisch wissenschaftlichen Genauigkeit wegen? Ich sollte den Arm des Menschen aufstechen, den ich mehr liebte als mich selbst? Ja, sogar jetzt, wo die Todeserscheinungen schon unverkennbar wurden und wo das einstens so liebliche Gesicht in seiner verzerrten, giftgelben Maske eine schauerliche Häßlichkeit angenommen hatte, ja, bloß das seidige, dunkelblonde Haar war noch etwas von der Monika des ersten Tages – alles andere war abgrundhäßlich, abstoßend, abscheulich, der rissige, mit blutigen Borken bedeckte Lippenrand, die von Haut entblößte Zunge, die geschwellten, blutenden Zahnfleischteile, die Mundöffnung, die ich bei der ewig schluchzenden gelben Kranken wie bei einer Leiche auseinanderklaffen sah, es war nichts Liebliches, nichts Anbetenswertes mehr an dieser Erscheinung – es war nicht mehr ein denkender Mensch, das Leiden war dumpf, wortlos, ein schauerliches Phänomen, ihr Schluchzen kein Ausdruck des bewußten Kummers, sondern ein passiver Reflex, der durch das Y. F.-Toxin überempfindlich gewordenen Vagusnerven, und doch, selbst jetzt, als alles so war, wie es klinisch sein mußte, ich setzte zwar dem Auftrag Walters entsprechend den Schnepper an, um etwas Blut zu entnehmen, ich ließ Aya den safrangelben, mageren Arm über und unter der Ellenbogenbeuge zusammenpressen, um etwas Blut an der Einstichstelle zu sammeln – aber ich drückte nicht zu. Ich stach nicht ein.

Bloß des Scheines wegen mogelte ich. Ich nahm von dem aus dem Zahnfleisch geflossenen Blut ein winziges Tröpfchen und verteilte es auf der Glasplatte, um Walter ein Präparat »als ob« vorweisen zu können.

Am Abend dieses Tages griff sich Monika oft nach der Kehle, bald mit der Linken, bald mit der Rechten, sie röchelte, als ersticke sie. Die Pflegerinnen nahmen die kostbare Perlenkette von dem Hälschen des Kindes und reinigten mit warmen Wasser beides, erst den Hals, dann die Kette und legten ihr die Kette wieder um.

Sie hatte großen Wert, sie war echt.

Ich erinnere mich, daß ich in meinem alten Leben eines Tages Geld die Urmedizin genannt hatte.

Ein anderer Mensch war es, der dies gesagt, eine andere Seele, die dies geglaubt hatte.

Ich will noch etwas sagen, da ich mir versprochen habe, ganz ehrlich zu sein, so ehrlich, als es der vom Mutterschoß an lügenhafte Geist des Menschen nur zu sein vermag.


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