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IV

Während noch alles in einer sonderbaren Schlaftrunkenheit verharrt, fällt plötzlich ein kleiner Gegenstand mit schwachem, dumpfem Geräusch irgendwo nieder. Ruru, der Hund meines Vaters, springt empor, dreht seinen schönen, länglichen Kopf hin und her und will sich nicht beruhigen. Auch mein Vater schrickt auf, beeilt sich, den Deckel der photographischen Kassette zu schließen, um die kostbare Aufnahme zu retten. Im gleichen Augenblick erfolgt noch einmal dasselbe dumpfe Zubodenfallen. Es klingt, wie wenn ein aus Kork und einigen aufgesteckten bunten Federn bestehender Federball, womit Kinder mittels kleiner Schläger über den Tisch hinweg eine Art Tennis spielen, auf der Tischplatte aufprallt.

Aber es spielen hier keine Kinder, es sind Erwachsene, die sich nur mühsam beherrschen, denen es schwer ums Herz ist, deren Augen zu tränen beginnen, die auf das Brodeln und Huschen und Schmoren im Innern des Rattenschiffes hinhorchen und die jetzt alle nach Licht verlangen. Mit einemmal haben sich die Eskimohunde freigemacht, sie haben ihre Herren unter wahnsinnigem Bellen, Knurren und Aufheulen mit sich gerissen, und schon sausen die Hunde und hinter ihnen ihre Herren über die Laufplanke auf die freie Schneefläche hinab.

Die Besatzung des Schiffes bleibt zurück. Da beginnt einer schwer aufzuatmen, zu stöhnen, er übergibt sich, ein anderer krächzt, von schrecklichem Hustenreiz gepeinigt, aus den Augen schießen ihm Tränen in Güssen, die Nase, die Mundschleimhäute beginnen zu schwimmen, zwanzig Leute klagen über Kopfschmerzen, Brennen im Rachen, Würgen im Halse, Übelkeiten im Leib, Angst, Todesangst, Dunkelheitsangst, Nordlichtangst, alles drängt sich zur Laufplanke, aber es geht nicht in glattem, jagendem Zuge wie bei den Naturkindern, den Eskimos und ihrem Getier, sondern die Kulturmenschen stolpern im Dunkeln, die Stahltrossen schneiden ihnen in die Handflächen, sie stoßen gegeneinander, zwei von den Gelehrten gleiten plötzlich unter einer der glatten Stahltrossen seitlich von der vereisten Laufplanke ab und bleiben am Fuße des Schiffes auf den Schollen unter winselndem Jammern liegen, alle sind wie von Wahnsinn besessen. Nur mein Vater nicht und ebensowenig der Geograph, mein künftiger Oheim, der mit seiner Laterne draußen auf der Schneefläche spazieren gegangen war, während sich dies an Bord ereignete. Jetzt zündet er die Laterne an, die bei dem hastigen Zuhilfe-Eilen erloschen war, er hilft den zwei auf dem Schnee sich wälzenden Männern der Wissenschaft, denen bloß das Kreuzbein geprellt war, wieder auf die Beine, unterstützt die andern beim Verlassen des Schiffes. Ruhe, nur Ruhe! Es ist ja nichts! Aber nur ein kleiner Teil folgt seinen Anordnungen, ein anderer, größerer wälzt sich oben in einem wirren Knäuel auf den Schiffsplanken, die Fäuste gegen die Bäuche gestemmt, in ihrem eigenen Erbrochenen sielen sie sich, und keiner sieht etwas vor Tränengüssen. Immer stärker werden die Qualen, die Laterne beleuchtet ein scheußliches Bild. Zwischen den leidenden Menschen treibt sich auch das Vogelbauer umher. Zwei kleine, meerblaue Federbällchen rollen leblos auf dem Boden, dem nackten Blech (denn Vogelsand hatte man schon lange nicht mehr in der Eiswüste) erfroren oder vergiftet – die Papageien leben nicht mehr.

Die Hündin Ruru umkreist unermündlich meinen Vater, schnappt nach seinen hohen Stiefeln, als er sie fortzustoßen versucht, sie rennt hundertmal über die Laufplanke voraus und wieder zurück, will ihn gleichsam auffordern, das gleiche zu tun. Mein Vater als Führer der Expedition kann das Schiff nur als letzter verlassen.

Was ist geschehen? Die giftigen Dämpfe, Arsen mit Schwefel gemischt, auf feuchtem Leder langsam schmorend, müssen unsichtbar durch winzige Fugen emporgestiegen sein. Die brenzligen Gerüche des Leders hätten warnen sollen, man hat aber nichts gespürt. Die Leute liegen leise stöhnend da. Giftiges Gas. Das Nordlicht leuchtet über ihnen, von stummen Blitzen durchzuckt. Kein Windhauch erhebt sich.

Alles von Bord. Die am tiefsten benommen sind, zuerst. Sie sind in einer Art Raserei, stampfen mit den Beinen, wehren sich gegen die Retter, schlagen mit den Köpfen auf. Männer der Wissenschaft weinen und schluchzen und – beten! Der Missionar, sonst ein lustiger Bruder, immer voll Humor, greift schmerzverzerrten Gesichts meinem Vater ins Gesicht, zerrt an dessen langem Bart, reißt ihm die goldgefaßte Brille von den Augen fort, aber mein Vater und der Geograph nehmen den Mann energisch zwischen sich, der eine packt die Arme, der andere fesselt die Beine und schnell fort mit dem schweren Mann, heraus aus der unsichtbar von Gift geschwängerten Atmosphäre. Dann folgen die andern, und in zehn Minuten ist das Schiff endlich von Menschen frei. Das Gift kann wüten, die Ratten sollen ersticken, bis zur letzten untergehen.

Alle drängen sich nun draußen auf dem Eise in die Eskimozelte, aber die Eskimos rüsten schon zum Aufbruch, sie behaupten, ihre Vorräte seien zu Ende, sie reden dies und reden das. Man muß mit Mord und Totschlag drohen. Zwei Tage und zwei Nächte halten die Expeditionsteilnehmer in den Zelten aus, notdürftigst ernährt, frierend, vom Schmutz der Menschen und Hunde belästigt, von den Nachwehen der Arsenvergiftung benommen, leidend, entweder besonders apathisch oder besonders gereizt und böse. Man haßt meinen Vater, weil er gesund geblieben ist. Aber er hat doch den gleichen Giftbrodem eingeatmet. Kann er für sein Glück?

Man muß sich aufs äußerste einschränken, aber man tut es, allmählich beruhigt, in der Hoffnung, beim Wiederbetreten des Schiffes dieses frei von Ratten zu finden.

Nach fünfzig Stunden betritt mein Vater als erster das Schiff. Die Planken dröhnen dumpf unter seinen hohen schweren Lederstiefeln. Er hat eine Pike in der Hand, wie sie die Eskimos verwenden, um die Hunde beim Laufen anzustacheln, in der anderen Hand eine Laterne, er pocht auf den Boden des Decks, scheinbar antwortet ihm nichts. Die Tiere sind also hin, dem Himmel sei Dank. Seine Freude, seine Zufriedenheit lassen sich nicht beschreiben, er zieht ein weißes Tuch aus seiner Tasche, winkt den Kameraden auf der Scholle zu: alles geht gut. Er zieht eine Falltüre in die Höhe mittels eines Eisenrings, in welchen er den Widerhaken der Pike gesteckt hat, er steigt den Haupteingang in die Lebensmittelmagazine hinab. Kaum ist er über einige Stufen hinab und hat mit der Laterne um sich geleuchtet, da erscheint hinter seinem Rücken ein zweites Licht. Gegen den Befehl hat der Geograph meinen Vater nicht allein hinabsteigen lassen wollen. Während die beiden noch darüber streiten, was wichtiger sei, Disziplin oder Kameradschaft, huscht schon eine dicke, große Ratte frech an den Beinen meines Vaters vorbei in die Höhe auf Deck, rennt flink, schwirrend wie ein Kreisel, um den Hauptmast und kehrt wieder zurück, in einem gewaltigem Sprunge über den Rücken meines Vaters hinwegsetzend. Mein Vater und mein Onkel leuchten mit ihren Laternen in die Tiefe. Himmel! Überall hocken und schlüpfen und huschen sie, die unverwüstlichen Ratten. Nur vier- oder fünfmal stoßen die Füße meines Vaters gegen einen halbzerfleischten Kadaver. Auf den Vorratskisten und auf den Fässern halten sich die Bestien jetzt wie immer, sie knabbern, die weißen Zähne vorgebleckt oder sie putzen sich, frech ins Licht der Laterne starrend. Und nicht nur von einer Stelle erklingt das vogelartige Piepsen der jungen Ratten, sondern von vielen, ja aus allen Ecken der Magazinsräume. Das alte Geschlecht ist nicht verreckt, und das neue ist glücklich auf dem Weg! Was wird werden? Wie werden sie sich die Mägen füllen? Selbst jene Lunten, die nicht angebrannt waren, hatten die unverschämten Tiere verzehrt. Leben, fressen, zeugen. Unverschämt! Nein, genügsam. Dem Leben gewachsen, auf der ansteigenden Linie, Gegner von Rang. Wie soll man sie vernichten, ohne auch die Menschen mitzuvernichten, denen sie sich eingegliedert haben?

Das war also das Ergebnis: nur zweiunddreißig Tiere waren krepiert, man mußte sie recht weit abseits vom Schiff im Eise verscharren, damit die Hunde sich nicht daran vergifteten. Aber die Hauptsache ist: tausende und aber tausende Ratten leben und gedeihen. Das Schiff sitzt im Eise fest. Die berühmte, altehrwürdige Schiffswerft hat beste Arbeit geliefert. Das schwere Schiff widersteht, zwar ächzend und knarrend, aber unzerstört den dauernd nachpressenden Packeismassen.

Den Nagetieren in seinem Bauche widersteht das Schiff nicht. Sie leben lustig weiter. Sie suchen keinen Pol. Sie interessieren sich nicht für Meteorologie, nicht für Idiome, nicht für Eskimomärchen, nicht für das Christentum. Nicht das Meßbare, nur das Eßbare ist für sie da. Wenn ein schwächeres, wohlschmeckendes Wesen lebt und sie es erwischen können, dann töten sie es. Und ist es tot, dann sezieren sie es nicht, sondern fressen es auf. Sie leben nicht ehelos, nicht entbehrungsreich, nur den hohen Zwecken und hehren Zielen der theoretischen Wissenschaft dienstbar wie mein Vater und seine Gefährten, sondern sie sind eben natürlich. Mann und Weib, Vater, Kinder, Mutter und Großmutter, alle bis ins vierte und fünfte und siebente Geschlecht, alles eine Familie, riesengroß und immer noch nicht groß genug. Sie überschwemmen den von Menschen errichteten kunstvollen Bau mit ihrem Fleisch und Blut, mit ihrem Schmutz und ihrem Gerüchlein. Wohin man sieht, überall ist ihre Uniform zu sehen, dieser graubraune, längs der Wirbelsäule dunkler geströmte, flaschenähnlich anschwellende Körper, dem vorne der scharfe Kopf und rückwärts der wurmartige, hellere, haarlose Schwanz mit den zweihundert quergestellten Ringeln angesetzt ist. Sie sind froh, daß sie sich mästen können. Sie folgen konsequent dem zähen Trieb der Weiterexistenz. Sie setzen alles an ihr Dasein und kennen anderes nicht. Man nennt sie Wanderratten, aber sie können auch einem Ort treu bleiben, solange der Ort und das Futter daselbst ihnen treu bleiben.

Hier studierte mein Vater die Tiere, die später als Gäste in seinem Hause wohnten.

Aber wenn eine Gemeinschaft sich ungemessen vermehrt, welche Nahrungsmenge wird auf die Dauer reichen? Keine. Schon entbrennen scharfe, leidenschaftliche Kämpfe unter den Tieren um Futter, zwar vorerst selten, aber doch. Und dabei gab es doch unermeßliche Vorräte auf dem Schiff, unermeßlich mit den Augen einer einzelnen, verhältnismäßig kleinen Ratte gesehen. Aber ihre Gier ist nicht klein. Nichts ist vor ihnen zu retten.

Sie begnügen sich nicht mehr mit den unteren Magazinen. Sie dringen, unter den geänderten Lebensverhältnissen zu einer mutigeren, männlichen Rasse geworden, nach oben in die Kajüten der Gelehrten und des Kapitäns vor, in die gemeinsame Schiffsmesse schleichen sie, erst zur Schlafenszeit, dann auch bei Anwesenheit von Menschen, denn dort ist es immer warm, es wird geheizt. Sie finden den Weg in die Schränke, zerschleißen den dicksten Pelz, sie nehmen, Mutter, Kind und Kindeskind, warmes Winterquartier zwischen Futter und Fell von Bibermützen mit langen Ohrschützern. Man muß sie mit Knüppeln erschlagen, mit Messern abstechen, sonst weichen sie nicht. Sie bewohnen Vorratskisten aller Art wie Häuser und Dörfer. Was sie kauen, benagen, hinunterschlingen können – alles ist ihnen recht. Mehl, Fett, Dörrobst, getrocknete Frucht, gedörrter Fisch, Zucker, Tee, Reis, Tabak, Gewürze, aber auch Holz, Wolle, Leder, Segeltuch – alles mit Ausnahme von Eisen und von Rum und anderem Alkohol. Mehr als ein Rumfäßchen haben sie schon angebohrt, aber ausgesoffen haben sie es nicht, sondern sie sind darin ertrunken oder sind vergiftet worden davon, sehr zur freudigen Genugtuung des Missionars. Ach – »freudig«? Freude kennt man in der Menschenkolonie schon lange nicht mehr, keine friedliche Stimmung kommt zustande, und doch kleben die Menschen stunden-, tagelang aneinander.

Mein Vater geht stumm in bleicher Wut umher. Er ist abgemagert, seine Wangen sind abgezehrt, die Augen hohl wie die der andern. Er hat sehr höflich gebeten, man möge ihn nicht ungefragt anreden, aber diesen Befehl wollen seine Gefährten nicht als berechtigt anerkennen, sondern sie behelligen ihn mit allen möglichen und unmöglichen Fragen, Bitten, Vorwürfen, Beschwerden. Es kommt vor, daß sie ihn (alle in einem gänzlich abnormen Geistes- und Gemütszustand) für die »unmöglichen Zustände« an Bord des Schiffes verantwortlich machen. Er hätte mehr Vorsorge treffen sollen – aber welche? Andere wieder vertrauen ihm ihre letzten Familiengeheimnisse an, andere ihre wissenschaftlichen Pläne und Ideen, einige, glücklichere, kehren in die Gefilde der Kindheit zurück, sie spielen kindliche Spiele, Wettrennen an Deck, aber nicht nach vorn, sondern nach rückwärts stolpernd – oder auf allen vieren, als wollten sie mit den flinken Tieren konkurrieren – und dies tun erwachsene, bärtige Männer, die daheim Frau und Kind haben! Mein Vater wagt nicht, den strikten Befehl auszusprechen, sie mögen dies unterlassen, da er nur Widerspruch fürchtet. Womit kann er drohen – wie soll er strafen – wie etwas durchsetzen? Andere haben die Kindersprache eingeführt, unterhalten sich wie dreijährige Mädchen, flechten einander bunte Bändchen in die Barte, küssen einander, versteigen sich zu verlogenen, unnatürlichen Liebkosungen, aber auch zu verbissenen Eifersuchtskämpfen.

Und vor allem die Ratten. Es nützt ja nichts, sich vorzureden, ihre Zahl nehme wieder von selbst ab oder sie würden einander in ihren wüsten Kämpfen automatisch vom Erdboden vertilgen. Sie sind da. Überall. Immer.


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