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VII

Welch ein törichtes Experiment! Sich von dem letzten sicheren Besitz im Leben trennen bei einer so geringen Aussicht auf Erfolg! Kann denn der Mensch über die Natur triumphieren? Nie. Er, der Mensch, ist doch nur ein Experiment von Seiten der Natur, der furchtbaren.

Man schickt den Hund nach unten, in die Unterwelt. Vorher soll er aber einen Tag fasten, damit er um so besser Furcht und Schrecken unter die Bestien unten verbreite. Die meisten Gefährten sind ganz apathisch.

Der einzige, auf den dieses Experiment Eindruck macht, ist der Geograph. Er gibt meinem Vater die Hand. Wenn er dabei schweigt, ist es nicht eine Strafe, sondern weil er in Wahrheit vor Ergriffenheit keine Worte findet. Der Geograph streichelt das Rückenfell des Tieres. Ruru ist ihrem Herrn so gehorsam, daß sie die Nahrungsbrocken, welche die anderen Gelehrten ihm von dem Tische in der Messe hinabwerfen, nur beriecht, aber nicht frißt. Hunger, gut! Ruru drückt ihre Flanken an die Stiefel meines Vaters, schüttelt den Kopf, so daß das Halsband klirrt und will sich legen. Aber gegen das Hinabgelassenwerden in die Magazine sträubt sich der Hund. Ratten? Nein. Er beißt nicht nach der Hand seines Herrn, die ihn am Halsband die Stufen hinabführt, er dreht und zerrt nur den Hals fort. So stark, daß es ihn würgt, daß er keine Luft bekommt. So sehr muß es dem Hund vor der Rattenwelt da unten grauen. Hilft nichts. Die Lukentür von oben zugeworfen. Mit den schweren Stiefeln darauf gestampft. Dem irrsinnig umhertobenden, bellenden Hund unten ein paar Worte zugerufen: »Hussasasa los! Machs gut!« Und dann selbst fort vom Schiff, die Flinte auf die Schulter und auf die Jagd.

Nach einer Stunde kehrt mein Vater heim. Schon von weitem tönt ihm das ammervolle, fast schluchzende, seelenverlorene Heulen des Hundes entgegen aus den tiefen Räumen des Schiffes, durch den Widerhall schauerlich verstärkt, wie die Stimme von Hamlets Vater aus den Tiefen der Erde, das böse Gewissen.

Die andern läßt es kalt. Die Hölle könnte sich auftun unter ihnen und sie, die Gelehrten würden weiter um Bonbons, die sie in einem Glasgefäß gefunden haben und die den Rattenzähnen entgangen sind, stundenlange Kartenpartien und endlich Würfelspiele spielen. Die Mannschaften würden, und wenn der Satan selbst unten heulte, nicht aus ihren Kojen kommen, wo sie betrunken fast den ganzen Tag im Halbschlummer verbringen.

Was ist sie denn im Weltenlauf, was ist sie im Gange der wissenschaftlichen Expedition, diese Hündin Ruru? Nur ein Opfer mehr, ein nutzloses. Angstvoll und höchst schmerzensreich jammert dieses Tier und klagt den Menschen an, an den es geglaubt hat und der auf seine Kosten ein moralisch sein sollendes Experiment gemacht hat.

Keiner wagt in den Laderaum hinabzugehen. Mein Vater am wenigsten. Der Geograph und der Missionar streiten sich, wer es übernehmen soll, schließlich würfeln sie, der Gewinner muß zwei Bonbons zahlen und der Verlierer muß in den Laderaum hinabgehen und darf sich den schweren Gang durch die zwei Zuckerzeltchen versüßen.

Der Geograph steigt die Treppe hinab, der ruft Ruru, er lockt sie mit seiner jetzt wahrhaft süßen Stimme. Eben hat Ruru noch wütend gebellt, man muß sie doch finden?! Ja, er findet sie, ohnmächtig von Schmerzen und Blutverlust der Länge nach daliegend, die Ratten haben sich an Kopf und Beinen der armen Kreatur festgesetzt und kaum vermag sie der kräftige Mann durch brutalste Fußtritte zu verjagen, das Opfer ihnen zu entreißen und an Deck zu bringen.

Auf seinen Armen bringt er das blutüberströmte, heftig schnaufende Tier. Es schlägt die verklebten Augen auf, blinzelt durch die Blutbröckchen hindurch, streckt die schmale, lange Zunge weit heraus und winselt herzzerbrechend. Er läßt es hinabgleiten. Ruru kann nicht laufen. Kopf, Bauch und Schweif an die Deckbohlen angepreßt, aus dem Maule blutend, aus den Pfoten blutend, kraucht Ruru auf dem Oberdeck umher und heult ihr Elend den Eisbergen und dem schon zart bläulich angehauchten, nicht mehr streng winterlichen Polarhimmel entgegen. Frühlingsahnen liegt in der Luft. Es gibt wieder Helligkeit, und die Zeit des sogenannten immerwährenden Tages rückt näher und näher. Die Eisberge sind blanker als sonst, von den Schollen ist der Schmutz hinabgespült.

Was nützt es der lamentierenden Ruru? Die Ratten haben ihr die Fersen angefressen, ein Stück Fleisch zwischen Lefzen und Nase ist dahin auf alle Ewigkeit. Ruru jault und streckt die Zunge so weit als möglich vor, um die Wunde zu lecken. Ruru will nicht fressen. Oder kann nicht. Sie muß die Nahrung mit einem hölzernen Löffel eingeflößt bekommen. Zur Schlafenszeit stört sie alle durch ihr röhrendes, schluchzendes Heulen. Ruru ist böse, kratzt und beißt alle Menschen, meinen Vater eingeschlossen. Den hölzernen Löffel hat sie störrisch zwischen den Zähnen zerknackt, die Nahrung verweigert sie, dennoch lebt sie weiter. Niemand will mehr mit ihr zu tun haben, nur mein Vater kommt täglich unter stürmischem Herzklopfen an die Schlafstelle seines Lieblings, wagt sich aber nicht zu nahe heran, spricht aus der Ferne. Die Kameraden lachen, ein betrunkener Matrose zieht einen Handschuh aus und wirft ihn dem Tier an den Kopf. Ruru blickt auf und knurrt, fletscht die Zähne, der Matrose wagt nicht, sich den Handschuh zu holen, auf dem Ruru sitzt und den es dann wie in Zorn und Wut zerstückelt.

Das Wetter wird besser, die Stürme haben sich gelegt. Nachts treiben unter sanftem Dämmerlicht gründurchleuchtete Wolken von nie gesehenen Formationen vorbei. Ruru bellt zum Himmel empor, die Augen geschlossen. Die Wunden glitzern im Widerschein der Schiffslaterne, und wenn das Tier über Deck geht, zieht es eine Blutspur nach sich. Aber es lebt.

Die Herren und die Matrosen haben sich erholt. Vollzählig sind sie wie bei der Abfahrt. Die Skorbuterscheinungen sind fast ganz verschwunden. Vielleicht hat jeder heimlich für sich eine Ratte geschossen und das Blut als Medizin geschluckt. Darüber schweigen sie.

Aber der Hund ist ihnen im Wege, sie können nicht in seine Nähe kommen, ohne daß er nach ihnen schnappt. Auch sie würden nach ihm schnappen, denn sie hassen und verachten ihn, da er (für ihr Wohl!) unterlegen ist. Mein Vater ist sehr freundlich, sehr sanft und sehr unbeliebt. Die Rationen sind in letzter Zeit spärlicher geworden. Es ist nicht so einfach, in die Magazine zu gehen und die von den Ratten bewachten Vorräte heraufzuholen. So wollen die Herren wenigstens ihre ungestörte Nachtruhe. Solange Ruru lebt, ist keine Nachtruhe möglich.

Ein Schiffsrat tritt zusammen. Jetzt, da es gegen meinen Vater geht, haben die Herren ihre Stimme wiedergefunden, das Schweigen ist gebrochen, sie begrüßen einander mit Ernst und Feierlichkeit, ihre Vollbärte schüttelnd, wie Menschen, die gemeinsam Schweres erduldet und überstanden haben. Sie hören auf, kindisch zu sein – oder werden sie es erst recht? Sie klagen meinen Vater in dessen Abwesenheit der Tierquälerei an und mit allen gegen zwei Stimmen (die sich auf eine verringert, da man den Missionar durch Alkohol und Bonbons kirre macht) also mit sämtlichen gegen die Stimme des Geographen bestimmen sie, »Ruru wird erschossen«. Ruru ist unheilbar und eine Belastung für die Expedition, nächtlicher Ruhestörer und unnützer Fresser. Mein Vater, herbeigerufen, hört gesenkten Blickes, den Mund unter dem dichten Bart zu einem verlegenen Lächeln verzogen, das seine herrlichen Zähne entblößt, das Verdikt, daß sein Hund aus Menschlichkeitsgründen zu schmerzlosem Tode verurteilt sei von der Majorität. Er verbeugt sich höflichst, aber er legt Berufung ein, er tut den Schuß nicht und wehe dem, der sich an Ruru vergreift. Sie trauen ihm alles zu und lassen ab. Ruru lebt.

Mein Vater schleicht sich im wolkenlosen Mondschein nachts zu Ruru und erzählt ihr, sich in angemessener Entfernung von ihrem scharfen Gebiß haltend, daß die bösen Menschen ihren Tod beschlossen hätten. Daß er aber Ruru nicht hergeben werde. Die Wunden würden vernarben und sie würde noch viel schneller vernarben, wenn Ruru vernünftig und klug sein wolle, ihn heranzulassen, um seine Behandlung auf sich zu nehmen. Das Tier antwortete nur durch Knurren, seine scharfen Zähne sind zu fürchten, die Hände kann man zwar durch Pelzhandschuhe schützen, aber Ruru ist imstande, dem Menschen das Gesicht da in der Gegend um Mund und Nase zu zerfleischen. Sie haßt alle Menschen, meinen Vater besonders. Sie sieht ihn an, die Augen glosen, das früher seidenweiche, jetzt struppige Haar sträubt sich, besonders in der Halsgegend und – das erschrecklichste, trotz seiner wunden Pfoten will Ruru gegen seinen frühren Abgott losgehen. Früher Herr und Abgott, jetzt Feind. Und nie hatte mein Vater dieses Tier mehr geliebt, nie hatte er es so sehr wie jetzt der Gesellschaft seiner Gefährten vorgezogen. Er ahnte jetzt, was der Mensch ist. Aber der Hund und er kamen nicht zueinander. Mit abweisendem Blick, die herabrollenden Tränen mit dem etwas gesträubten Schnurrbart aufnehmend, eine lustige Pfeifmelodie versuchend, um die höhnisch feixenden Matrosen über seinen Gemütszustand zu täuschen, so geht Tag für Tag mein armer Vater von dem Hunde fort. Der Hund hat sich auf den wunden Pfoten aufgerichtet und mit böse funkelndem Blicke, leise, aber fast ununterbrochen knurrend, sieht er meinem Vater nach, bis dieser in der Kochkombüse verschwunden ist, wo er mit dem Koch bespricht, wie man den Ratten die Proviantmittel entreißt und wie man das Essen für die Herren und die Mannschaft und die schmarotzenden, aber jetzt besonders unentbehrlichen Eskimos und deren Hunde zusammenstellt. Sie essen alle das gleiche, wenig und schlecht, aber sie sind insgesamt glücklich, wenn sie vollständig satt geworden sind.


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