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IV

Die Wendung des querliegenden Kindeskörpers auf den Kopf im Leibe der Mutter stellt zweifellos den einfachsten und schonendsten Eingriff vor, wenn dieser Eingriff durch bloße Lageveränderung, also von außen gelingt. Meist liegt der Kopf des Kindes an sich dem Beckeneingang der Mutter etwas näher, also etwas tiefer, als das Ärschlein des Kindes. Man muß daher die Mutter auf dieselbe Seite sich lagern lassen, wo der Kopf liegt, um die natürliche Beendigung der Geburt zu ermöglichen.

Ich bat die Oberin und eine junge, aber tüchtige Schwester, ihr Faktotum, mir behilflich zu sein. Wir stellten zwei Betten mit der Längsseite nebeneinander, brachten eine Querstütze an und wollten nun den Lagewechsel folgen lassen. Ich, seit meiner Krankheit nicht der muskelstärkste, unternahm es dennoch, die Frau aus ihrem Einzelbette zu heben, ich trug sie auf meinen Armen in das Querbett und stellte die gewünschte Lage her. Ihre Schmerzensäußerungen hatten nicht aufgehört. Noch als ihr schweißüberströmtes, von roten Flecken getigertes Gesicht an meiner Brust lag, mußte ich die zischend hervorgestoßenen, wilden Atemzüge an meinem Halse fühlen. Denn sie unterdrückte jetzt das Schreien, so gut sie konnte.

Endlich lag sie so, wie wir wollten. Sie lag fest. Aber nicht ruhig. Sie sollte und durfte nicht ruhig sein, sie sollte mithelfen, wir durften ihr beim besten Willen kein schmerzstillendes, lösendes, lähmendes Betäubungsmittel verabreichen, sie mußte die Bauchpresse mit aller Muskelkraft anstrengen, um die Geburt zu fördern.

Schon bei normalen Geburten ist es kein leichtes Stück, eine werdende Mutter zu veranlassen, sich ihre Schmerzen selbst zu steigern, indem sie mittels der Bauchpresse absichtlich den Kopf des Kindes durch die zusammengekrampften Bauchmuskeln tiefer durch die schmerzhaften, empfindlichen Teile ihres Unterleibes hindurchpreßt. Wie schwer war es erst hier! Aber ich vermochte doch so viel über die vor tierischem Leiden fast besinnungslose Frau, daß sie ihr Möglichstes tat. Ich unterstützte den Vorgang methodisch durch meine Hand außen an ihrem Leibe.

Das Kind liegt nicht unmittelbar unter der Haut und der Muskelhülle, es ist innerhalb der Gebärmutter von Fruchtwasser umgeben. Wenn man schon den Kopf gefaßt zu haben glaubt, schlüpft er oft wieder fort wie der Kopf eines Fisches im Wasser, und je stärker die Wehen werden, je mehr sich die Wand der Gebärmuttermuskulatur verdickt und zusammenzieht, desto schwerer wird es, mit der Hand von außen energisch nachzuhelfen und aus der falschen Lage des Kindes endgültig eine richtige zu machen. Welche Listen, welche Kunstgriffe, welche Plage! Endlich schien es uns gelungen zu sein. Die Frau lag auf der Seite auf dem Querbett, hielt sich mit beiden Händen an eine Stütze; ihr rötliches, schönes Haar glimmerte, weithin ausgebreitet auf den feuchten Kissen, sie faßte ab und zu mit den Händen nach mir, beherrschte sich dann, um mich nicht zu stören, und bemühte sich, ihre Schreie zu ersticken.

Als alles gut war, legte ich ihre kalte Hand wieder an den Platz, an den sie gehörte, drückte sie und zählte zugleich an der Radialader den Puls, der zwar etwas beschleunigt war, aber zu Besorgnissen glücklicherweise keinen Anlaß gab. Dann untersuchte ich die Herztöne des Kindes, indem ich das Stethoskop meines verstorbenen Freundes außen an der Bauchwand seiner Witwe anlegte. Die Herztöne des ungeborenen Wesens waren deutlich vernehmbar, paukenartig pochend, ich zählte einhundertvierzig bis einhundertzweiundvierzig in der Minute. Der junge Assistenzarzt, (er trug seinen alten, nicht mehr ganz sauberen Kittel und seine Anwesenheit hier gefiel mir nicht, doch was sollte ich tun?) stand dabei und war sehr besorgt wegen dieser hohen Zahl, beträgt doch die Pulszahl bei gesunden, erwachsenen Individuen nicht mehr als achtundsechzig bis siebzig in der Minute. Ich mußte ihn belehren, daß das ungeborene Kind eine doppelt so schnelle Pulsfrequenz besitzt. An seinem höflichen, aber ungläubigen Lächeln erkannte ich, wie gut es gewesen war, daß ich ihm die Leitung der Geburt nicht anvertraut hatte. Denn er war ahnungslos wie ein Kapuzinermönch.

In dem Befinden der Frau schien sich eine leichte Besserung anzubahnen. Die fleckige Röte wich von ihren ausgemergelten Wangen, der Atem ging nicht mehr so stoßweise und ihre Schreie dämpften sich zu tiefen, ziehenden Seufzern. Die Muskeln an ihren abgemagerten Ärmchen waren angespannt, sie hielt fest und hielt aus.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr mich dieser leichte Schein einer Besserung glücklich machte. Die Frau wollte etwas sagen, sie machte ein Zeichen, und als ich mich zu ihr hinabbeugte, bat sie mich, – ich solle ihren fünf Kindern in der Altstadt Nachricht geben? Nein, du schlechter Psychologe Georg Letham, – – sie bat mich, ich solle mich um das kleine Hündchen kümmern, das, in dem von ihr bisher bewohnten Gastzimmer eingeschlossen, sicherlich unter Durst und Hunger und Einsamkeit litt.

Ich bin sentimentalen Regungen zeit meines Lebens schwer, aber doch zugänglich gewesen. Und so unterlag ich ihnen auch jetzt. Ich suchte zuerst das Täschchen der Frau, das unter ihren Kleidern auf dem Rekonvaleszentenlehnstuhl lag und öffnete den Bügel, um den Schlüssel zu suchen.

Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich hier neben kleinen Geldscheinen, einem Schildpattkämmchen, Geldmünzen, Taschentüchlein, Lippenstift, Puderdöschen, dem Schlüssel und anderen Kleinigkeiten, den Reisepaß und die Depeschen meines Freundes fand, deren Stilisierung und Absendung ich vor kurzem selbst miterlebt hatte. Ich legte alles wieder an seinen Platz, lächelte der Frau vertrauensvoll zu, nahm den Schlüssel an mich und trat in den Korridor hinaus. March erwartete mich, fiebernd vor Sorge und Ungeduld. »Es geht besser, Herzensbruder, viel besser!« rief ich ihm zu und eilte so schnell ich konnte, in jenen Trakt des weitläufigen Hauses, wo sich das Gastzimmer befand und von wo mir das melancholische, wie eine immer wiederholte, kindische Frage klingende Gewinsel des Hündchens schon weither entgegendrang.

Aber gleichzeitig vernahm mein seit der Krankheit übermäßig feinhörig gewordenes Ohr wieder unverkennbare Verzweiflungslaute von der Frau, die zwar nicht das gellende, tierische der ersten Krampfwehen hatten, aber mir in ihrer gedämpften, abgeschwächten Form der Ergebung in die Verzweiflung doppelt ans Herz griffen.

Ich warf den Zimmerschlüssel der jungen Hilfsschwester vor die Füße, die sich gerade in dem Korridor zeigte, schrie ihr ein paar unzusammenhängende Worte zu, ob sie dieselben verstand oder nicht, war gleich, ich mußte zurück.

Ich machte mir auf diesem Wege die bittersten Vorwürfe, das Krankenzimmer verlassen zu haben. Aber war es so unverzeihlich gewesen? Auch ich, der immer das Schwerste hatte auf mich nehmen wollen und müssen, hatte einmal etwas Leichteres, Menschlicheres mitmachen wollen. Ein allein gelassenes, halb verhungertes und verdurstetes Tier herausholen, ihm alle Wohltaten erweisen, deren ein tierliebendes Herz fähig ist, (ich hatte begonnen, Tiere zu lieben, und wie!) – war das ein so großes Verbrechen? Es schien so.

Der Zustand der Frau hatte sich inzwischen in dem kurzen Intervall sehr verschlechtert. Sie lag nicht mehr folgsam auf der Seite, sondern auf dem Rücken, die Beine auf dem Querbrett, das wir durchgezogen hatten, aufgestemmt, sie jammerte und schrie, kraftlos, aber so herzzerreißend, daß kein Ohr, und wäre es auch weniger feinhörig gewesen als das meine, es ertragen konnte.

Auch die Oberin war schreckensbleich, und der gutmütige Assistenzarzt zitterte wie Espenlaub, als sich die Frau in ihrer Verzweiflung plötzlich emporwarf, sich in dem auf- und niederschnellenden Bette aufrichtete, sich auf die Beine stellte, auf ihren kugeligen Leib mit beiden Fäusten niederschlug und sich dann mit dem Gesicht nach unten mit aller Gewalt wieder auf das Bett zurückfallen ließ, als wolle sie durch die Gewalt des Sturzes das Kind in ihrem Leibe vernichten – und sich selbst dazu. Mit der größten Mühe nur gelang es, sie wenigstens auf Augenblicke zur Vernunft zu bringen – und diese Mühe bestand vor allem in einer starken Injektion von Morphium und Atropin. Gefahr oder nicht. Es mußte sein. Die Pupillen wurden sofort weit infolge der Atropinwirkung, die intensiver war als die pupillenverengende Wirkung des Morphiums.

Sie hörte jetzt allmählich mit dem Schreien auf, sie zeigte aber mit beiden Händen auf ihren Leib. Ich untersuchte sehr zart. Ihre Gebärmutter krampfte sich sichtbar unter der dünnen, bräunlichen, gestriemten Haut zusammen, ohne überhaupt noch einmal völlig erschlaffen zu wollen.

Plötzlich strömte grünlich gefärbte Flüssigkeit aus ihrem Leibe aus, das Fruchtwasser begann abzugehen, die Fruchtblase, die Eihäute waren gesprungen. Was tun? Schnell handeln? Ja, aber wie handeln? Konnte man noch helfen? Man mußte. Auf natürliche Weise konnte die Geburt nicht zu Ende gehen. Die Hände in den Schoß legen? In ihren Schoß? – in meinen Schoß? Den Geistlichen hereinkommen lassen, der, zum erstenmal ungeduldig, an der Tür pochte und das Kind im Mutterleibe mit einer Spritze voll Weihwasser zu taufen begehrte. Auch die Oberin war dafür. Der Direktor des Hauses, dieser treffliche Verwaltungsbeamte, aber höchst mittelmäßige und passive Arzt, traf zu allem Überfluß auch noch ein. Alle bestürmten sie mich laut mit Ratschlägen, Befürchtungen, sinnlosem Gerede. Bereuten sie, einen Sträfling zu der Leitung der Geburt bestimmt zu haben? Es war dazu zu spät. Sie schrien so durcheinander, daß man selbst die Frau nicht mehr hörte.

Ich weiß heute nicht, wie ich die Energie aufbrachte, alle aus dem Zimmer zu entfernen, ausgenommen die Oberin und die junge Hilfsschwester, die mir mit dem Schlüssel aus dem Korridor nachgekommen war und deren Gesicht in seiner unberührten keuschen Strenge mir ein gewisses Vertrauen auf ihre moralische Widerstandskraft einflößte, die sich dann auch bewährt hat. Die Luft war zum Ersticken. Wir rissen die Fenster auf. Man mußte erst atmen können, bevor man die schwerwiegenden Entschlüsse fassen konnte, die über Leben und Tod zweier Menschen entschieden.

Ein ungeheurer Wolkenbruch ging jetzt prasselnd nieder über der Stadt. Die Luft, nach verbranntem Schwefel riechend, war schwer wie Blei, sie drückte die Lungen.

Es brauste wie die tiefen Töne einer Orgel in dem Geäst der hohen Jacaranda, aus dem sich verstört mit ihren triefenden, weitgespannten, horizontalen Fittichen einige der geierartigen Nachtvögel erhoben, die man in dieser Gegend überall sieht.

Zurück an das Lager, das von dem grünlichen, mißfarbenen, aber geruchlosen Safte beschmutzt war. Ich legte das Stethoskop an das steinharte, gelbliche, wie ein sanft glänzendes Kuppelgewölbe aufgerichtete Leibesrund an.

Die Herztöne des Kindes? Sie waren gedämpft. Die Zahl nahm ab. Von einhundertvierzig war sie auf einhundertzehn gesunken.

Ein schlimmes Zeichen. Höchstes Alarmsignal. Wir mußten eilen, sonst war alles verloren.


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