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XV

Das Prozeßverfahren nahm den Verlauf, den ich vorhergesehen hatte. Ich wurde wegen Giftmordes, begangen an meiner Ehefrau, verurteilt zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in C. Alle meine Lebensumstände wurden mir als belastend angerechnet, mit Ausnahme meiner eifrigen Dienstleistung im militärhygienischen Komitee während der Kriegszeit. Diesem letztgenannten Umstände verdanke ich es, daß man von der Todesstrafe absah. Die einzelnen Phasen der übrigens in keinem Augenblick dramatischen, höchstens das eine oder andere Mal theatralischen Verhandlung führe ich hier nicht an. Was für einen Sinn sollte es denn haben, wenn ich meine Stieftochter auftreten lasse, die emphatisch den versammelten Gerichtshof fragt, »wie soll ich denn ohne meine Mammi weiterleben?«, oder meinen Schwiegersohn, der seine sauber behandschuhten Fäuste ballt und sich auf mich zu stürzen droht, auf den Mann also, der ihm durch seine Tat ein Millionenvermögen zugeschanzt hat? Was sollen die Aussagen meines Portiers über mein Privatleben oder der Bericht eines vollbärtigen, stotternden, dunkel bebrillten Abteilungsvorstandes aus dem pathologischen Institut, der sich ausweichend über meine wissenschaftliche Betätigung ausspricht und der mir erst auf Drängen des Staatsanwalts für meine wissenschaftlichen Experimente a) ein dilettantisches Können und Wissen, b) eine unregelmäßige, bald überhitzte, bald träge Arbeitsmethode und c) ein finsteres, verschlossenes, herrisches Wesen im persönlichen Verkehr zuschreibt, von dem ich bis jetzt frei zu sein glaubte, Was soll das besagen?

Schwerer wiegt schon, daß mein Vater, in dieser Zeit nun schon lange aus dem Staatsdienste ausgeschieden und in jeder Hinsicht sein eigener Herr, es verschmähte, mir an Gerichtsstelle entgegenzutreten und Zeugnis für oder gegen mich abzugeben. Er ließ sich bloß kommissarisch vernehmen und hatte sein Recht auf Zeugnisverweigerung (besaß er es denn?) in Anspruch genommen.

Was mich aber am schmerzlichsten traf, war der Umstand, daß ich meinen Bruder weder unter den Zeugen noch unter den Zuschauern sah. Er spielte in meiner Vergangenheit die kleinste, aber in meiner Gegenwart die größte Rolle. Ich habe es nicht verstehen können, daß er sich nicht zeigte.

Ich fragte meinen Anwalt danach, der über meine »Ungeduld« staunte. Vielleicht war ich weniger »verbrecherisch«, hatte ein kleineres Format, als er angenommen hatte. Er meinte, ich müsse doch andere Sorgen haben.

Im übrigen verlor er nach der Verurteilung bald sein Interesse an mir, er leitete zwar noch pflichtgemäß das formale Berufungsverfahren ein, versprach sich aber offenbar nichts mehr von diesem Schritt. Er kam nur noch selten in das Gefängnis. Alle meine Besuche wurden jetzt weit schärfer kontrolliert, ich erhielt die vorgeschriebene Tracht, ich unterlag der Gefängnisdisziplin, machte meinen Rundgang im Hofe, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Sonntags hörte ich (oder hörte ich nicht) die Messe, und die Zeit verging. Die Anzahl der Briefe, die ich absenden durfte, war geregelt, ebenso meine Tätigkeit, die Ordnung in der Zelle mußte in viel pedantischerer Weise aufrechterhalten bleiben – aber die geistige Starre, die mich befallen hatte, war immer noch nicht ganz gelöst. Dieser Umstand ließ mich noch nicht zur klaren, verantwortlichen Besinnung kommen.

Ich war seinerzeit aus der Geisteskrankenabteilung ins Gefängnis zurückgekommen, wie ein Mensch sich nach einer furchtbaren Katastrophe ins Kloster begibt. Mit dem Wunsche vor allem nach Frieden (oder geistigem Tod) und dann erst nach Freiheit. Sinn und Bedeutung einer »Strafe« waren mir seither nicht aufgegangen.

Nur die Langeweile wurde mir allmählich sehr drückend. Ich bat um Schreiberdienste in der Gefängnisverwaltung. Man antwortete nicht einmal auf meine Bitte. Vielleicht hatte ich sie nicht bei der richtigen Stelle vorgebracht. Den Geistlichen, der den größten Einfluß im Hause besaß, hatte ich bei seinen sabbrigen Bekehrungsversuchen nie einer Antwort gewürdigt. Sollte ich vor ihm mein Herz und meine geheimsten Beweggründe enthüllen, nachdem ich sie meinem Vater, meinem Bruder, meinem Verteidiger nicht enthüllt hatte? Vielleicht hatte ich aber seine Hilfe unterschätzt und ebenso seine Gefährlichkeit. Von ihm hing es ab, welche Art und Menge von Lektüre, die nach »Stufen« eingeteilt war, in meine Hände kommen durfte. Es gibt es jedem Betriebe kleine, aber auf die Dauer sehr fühlbare Begünstigungen und Benachteiligungen. In der scheinbar bis ins letzte geregelten »Hausordnung« gibt es Lücken, bissige Schärfen für die einen, ausgleichende, begütigende Hilfen für den anderen. Ein geistig anspruchsvoller Mensch trägt an der Einzelhaft, an der Einsamkeit, an dem Zusammensein nur mit sich ganz anders, als ein geistig träger, Aber – das war mein Glück – ich gehörte zu dieser Zeit keineswegs der Gruppe der geistig Lebensvollen an.

Nur sehr langsam begann sich meine Vergangenheit, von der Kindheit angefangen, in mir zu beleben. Ich war ein trister Mönch ohne Kloster und ohne Glauben geworden, und erst viel später entsann ich mich allmählich wieder meiner früheren Existenz, meiner Kindheit, der entscheidenden Jugendeindrücke, meines Vaters, meines Heimathauses.

Vor meiner Tat war ich oft schlaflos gewesen. Ebenso im Beobachtungslazarett unter den Geisteskranken. Aber nachher, auch während des Prozesses, bin ich schlaf süchtig, immer müde, apathisch geworden, – schwere Glieder, stumpfe Gedanken, kein Willen, kein Leiden – eben gelähmt. Daher auch mein Gähnen während der Schlußplädoyers – wahrhaftig keine Blague, keine zynische Geste.

Der Termin der »Seereise« war ungewiß. Wir verständigten uns miteinander, wie es in allen Gefängnissen der Fall ist. Wichtig war vielen, die Verbindung mit der Außenwelt aufrechtzuerhalten, um vor der Deportation nach C. die privaten Angelegenheiten zu ordnen, Liebesgaben zu empfangen, möglichst viel Geld zusammenzuscharren und es, da der Besitz unumgänglich, aber verboten war, auf das Schiff und nach C durchzuschmuggeln.

Oft wurde durch Klopfsignale von Wand zu Wand ein Abreisedatum kolportiert, die Leute bereiteten sich fieberhaft darauf vor, aber aus administrativen Gründen wurde nichts daraus.

Jetzt, wo ein jeder unter dem Regime einer staatlichen Einrichtung stand, erkannte man erst die unter allen Maßnahmen durchschimmernde Ungerechtigkeit, die stupide Selbstsicherheit, den schleppenden Geschäftsgang, die öde Wichtigtuerei, den bürokratischen Schlendrian. Dabei war es noch eine Musteranstalt, und Kommissionen aus fremden Ländern visitierten das Haus und seine Bewohner, machten sich Notizen, wollten hier lernen. Uns war solch ein Besuch eine Art Abwechslung und daher immer eine Freude.

Nach Freude sehnte sich ein jeder und wäre es auch nur Schadenfreude. Ich erkannte mit einer seltsamen Befriedigung, wenn ich es so nennen kann, daß ich ein starkes Empfinden der Schadenfreude erworben hatte. Ich beobachtete, daß geteiltes Leid für mich schon deshalb halbes Leid war, weil mich das Leiden anderer Menschen im Grunde kalt ließ und eher freudig erregte. Es tröstete mich! Ich hätte es früher bei mir nicht für möglich gehalten, aber es war so. Vielleicht hat meine vollständige Isolierung dazu das ihre beigetragen.

Ich rede von vollständiger Isolierung, meine aber nur die Trennung von meinem Vater und ganz besonders die Trennung von meinem Bruder, ich denke an meine letzte und unglücklichste Liebe. Die meisten Menschen beginnen damit, ich endete damit, oder glaubte zu enden. Das Versagen, das Verstummen meines Bruders. Hätte ich doch nur das geringste von ihm erfahren! Ich wußte, daß meine Nachbarn Briefe bekamen, erlaubte und durchgeschmuggelte. Ich hörte, wie sie, besonders dann, wenn ein Termin angesetzt war, ab und zu auf Viertelstunden in die Besuchszellen geführt wurden. Mich ließ man niemals kommen.

Niemals? Nein, ich übertreibe. Mein Verteidiger suchte mich noch einmal auf, das war alles.

Einmal kehrte einer meiner Nachbarn schluchzend in sein Gelaß zurück. Ich hörte, wie er sich dumpf aufheulend auf den Fußboden warf. Dies war nicht erlaubt. Er mußte sich bald wieder erheben. Der Schließer achtete bei seiner Runde mit militärischer Pünktlichkeit darauf, daß die Häftlinge sich weder auf die Erde, noch auf das über Tag in die Wand eingelassene Bett niederließen. Aber dieser mußte von seinen Angehörigen eine böse Nachricht erhalten haben. War sein Kind, seine Geliebte, sein Herzensfreund krepiert? Ich weiß es nicht. Ich pochte, ich signalisierte nach Strich und Faden, er antwortete nicht. Er war von seinem tierischen Heulen und Auf-der-Erde-Herumwälzen nicht abzubringen. Mir war wohl zumute dabei.

Es gab also noch Menschen, denen es schlechter ging als mir. Solchen, die nicht so abgehärtet waren wie der Sohn meines Vaters. Plötzlich dachte ich an meinen Bruder. Was konnte ihn zu seinem furchtbaren Schweigen veranlaßt haben? Ich entfaltete eine Unmasse Phantasie und ergründete es dennoch nicht. Wahrscheinlich verstand ich ihn ebensowenig wie er mich. Oder war er tot? Tot? Von ihm sprach ich mit »tot«, von den anderen mit »krepiert«. Aber diese Nachricht, stilisiert wie immer, diese Nachricht hätte mir der Geistliche nicht vorenthalten. Sie hätte mir aus seinem Munde sicherlich »zur Lehre« dienen müssen!

Nachts schlief ich weniger als sonst gewohnt. Der Kerl in der Nachbarzelle stöhnte kläglich, und seine Bettstelle quietschte jämmerlich. Ich hörte alles deutlich in der totenähnlichen Stille des großen Gebäudes, in welchem bloß Ratten heimlich knisperten und huschten, wie einst in meinem lieben Vaterhause, die lieben Nagetiere. Oder in dem Schiff meines lieben Vaters auf seiner Reise, das fest im Polareise stand und an das ich jetzt oft dachte. Ich sah meinen Vater auf Deck des Schiffes stehen, zwei Ratten auf den Armen, und sie als seine Söhne, mich und meinen Bruder, liebkosend. Ich erwachte vor Schreck und lag lange wach. Endlich schlief ich ein. Mir träumte von einer mandelgrün gefärbten, schon etwas angewelkten, zarten Wicke, es war eine Blüte ähnlicher Art, wie ich sie im Untersuchungsgefängnis seziert und mittels des Monokels meines Verteidigers vergrößert hatte. Nun fügten sich die auseinandergeschnittenen Teile, Kelchblätter, Honigbehälter, faserige Zellstränge, Saftleiter und Atmungsorgane, weibliche und männliche Pflanzengeschlechtsteile zusammen, und es wurde eine lebendige Blume daraus, sie erhob sich steif und saftstrotzend von einem weißen, mit schwarzen Spiegelschriftzeichen bedeckten Löschblatte, als wachse sie in Wirklichkeit aus dem Boden. In dem gleichen Traum erschien leider auch meine Frau.

Zum erstenmal seit dem Tode kam mir ihr Bild zu meinem Bewußtsein. Ich sah sie, wie sie mit verwelktem Gesicht, in ein zerknittertes, hellrosafarbenes Kreppkleid gehüllt, aus einem Fenster meiner Wohnung heraussah, rechts und links von cremefarbenen, gestickten Gardinen flankiert. Mit der einen Hälfte des Gesichts lachend, mit der anderen weinend, den einen Mundwinkel gehoben, den anderen niedergezogen, wie ins Innere des großen Mundes hineingequetscht. Sie grinste, von Schmerzen und Wollustempfinden zugleich erfüllt, wie so oft im Leben. Die Zähne fielen ihr aus, vergebens wollte sie dieselben mit der langen Zunge zurückhalten, zurückschieben. Traurig betrachtete sie dann die Trümmer alter Herrlichkeit, sie sprach, ich nickte und verstand sie nicht, plötzlich trat sie hinter die Vorhänge zurück, kreuzte diese über ihrer starken, dunklen Brust, die sich deutlich kühl, tödlich kalt anfaßte. Ich mußte jetzt aber wohl hinter ihr stehen, etwa zu ihren Füßen, in Kniehöhe. Die Krampfadern an ihren Unterschenkeln waren so zusammengeschrumpft, daß die schweren goldbraunen Seidenstrümpfe um die Unterschenkel schlotterten. Es mußte einem dieses Wesen leidtun und doch konnte ich zu keiner Reue kommen. Meine Tat war also notwendig gewesen, war mir aus meinem Herzen gekommen. Ich dachte an meinen Vater wie an einen Richter. Aber ich bereute auch dann nicht. Tue einer etwas dagegen! Was sein muß, muß sein.


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