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VI

Mein Vater ist bis jetzt gesund geblieben, seine Zähne sind fest und weiß, vollzählig; seine Haut zwar blaß, aber nicht bräunlich erdfarben wie die Haut der Skorbutkranken und nicht mit lividen Blutunterlaufungen getigert. Wie soll er die Kameraden zu dem Heroismus bekehren, der dazu gehört, Rattenfleisch zu essen oder, noch besser, warmes Rattenblut zu trinken? Dies ist die eine Gefahr. Die andere besteht in der unaufhaltsamen Vermehrung der widerlichen Tiere. Beides ist nichts Neues, nur das Alte in täglich schwerer zu ertragendem Maße. Man muß ein Ende setzen, man muß wenigstens ein Ende zu setzen versuchen.

Mein Vater hat noch einen letzten Freund. Mit diesem spricht er. Mit seinen Kameraden kann er nicht mehr sprechen. Sie würden es als Schwäche ansehen, würden ihn verachten, weil er das Schweigen nicht mehr hat ertragen können.

Dieser Freund war der Hund Ruru. Es war ein intelligentes Tier, voller Lebensmut und ungebrochen an Leib und Seele. Dieser schöne, mit langen, weich gelockten, goldfarbenen Haaren bedeckte, grauäugige, schlanke, hoch gewachsene Hund war nicht nur prachtvoll anzusehen, er hatte auch noch sein altes Feuer, seinen Mut. Wenn die Gefährten in der Messe einander anödeten und es kam eine freche Ratte daher, besann er sich nicht lange. Die Menschen waren bereits zu apathisch, um nach dem Biest zu treten. Sie waren keine rechten Menschen. Der Geograph zeichnete in den weißen Fleck auf der Landkarte, der das unentdeckte Gebiet rings um den Pol darstellt, selbst erfundene Inseln, Berge, Gletscher, Vulkane ein, nannte eine Bucht nach seinem Namen und trieb so Spott mit sich selbst. Oder war er bereits geistig so geschwächt, daß er daran glaubte? Andere Herren schnitzten aus Nußschalen Spielzeug für imaginäre Kinder oder legten Dominosteine aneinander, spielten mit sich selbst aus zwei getrennten Steinhäufchen kombinierte Partien.

Ein anderer schreibt Brief auf Brief an die Leute daheim, die nie ankommen können, ein anderer nimmt die abgelegten Dominosteine und baut sich ein Häuschen daraus, ein anderer betet ununterbrochen die Gebete und notiert die Zahl der abgehaspelten Vaterunser etc., die Zeitdauer mit der Stoppuhr abstoppend, als gälte es, einen Rekord zu brechen. Und der schauerliche, scharfe, ranzige Geruch der Ratten wird vertrieben von dickem Tabaksgewölk und dem durchdringenden Geruch des Arraks und Rums, den die Herren und Mannschaften in riesigen Quantitäten vertilgen, ohne es zu einem richtigen Rausch zu bringen. Es bleibt bei öder Benommenheit, bei einem Glucksen, einem idiotischen Grinsen, bei einer plumpen, verkrampften Umarmung eines ebenso benommenen Kameraden, man weiß nicht, ist es unnatürliche Liebe oder verwechselt der Betrunkene seinen Nachbarn mit der geliebten Braut, dem geliebten Vater, die er daheim gelassen hat.

Was bedeutet diesen Menschen in der bald vier Monate dauernden, schauerlichen Polarnacht noch die Wirklichkeit! Sie waschen sich nicht, sie kämmen sich nicht und werden so sehr zu Tieren, daß sie gegen die Rattentiere keinen echten Haß mehr aufbringen. Die Gesunden werden krank, die Kranken bleiben krank, überall an Bord sieht man Blutspuren, das Sitzen bei Tisch, wo die Leute aus zahnlosen, schmutzigen Mäulern schmerzlich träge kauen, wird zur Marter. Aufrecht halten sich nur noch ganz wenige, mein Vater, der Geograph, der Missionar.

Aber der Hund ist noch der gleiche, der er bei der Abreise war. Naht sich eine freche Ratte und schnuppert mit der Nase an den pelzgefütterten, tranbeschmierten Stiefeln eines der stupiden Herren, da schießt Ruru, die Hündin, unverzagt gegen die gar zu selbstbewußte Ratte los. Schon hat der Hund sie am dunkel geströmten, graubraunen, glatt behaarten Nackenfell, ein kurzer Quieker, dann pocht er ihr den Kopf drei oder viermal an den Boden auf, wartet dann, dumpf knurrend und heftig schweifwedelnd, ob sie sich etwa noch meldet, ob sie noch zuckt, dann hebt er sie fein säuberlich mit den blitzblanken, langen Zähnen auf und schleudert den Kadaver über die Bordwand aufs Packeis hinab. Als mein Vater dies zum ich weiß nicht wievielten Male sieht, faßt er einen großen Entschluß. Er will ein moralisches Beispiel geben. Er will den verunreinigten Kameraden erstens beweisen, welchen Opfers er für die Gemeinschaft fähig und willens ist, zweitens will er auch den Ratten im Schiffsbauche eine Lektion geben, damit diese widerlichen Tiere wissen, daß es doch etwas gibt, was ihnen gewachsen ist. Und durch diese moralische Mustertat will er den Kameraden neuen Lebensmut einimpfen; sie sollen mutig Rattenblut trinken, damit sie den Skorbut loswerden, und vielleicht gelingt es, der Ratten überhaupt Herr zu werden, die Lebensmittelvorräte im letzten Moment durch Ruru zu retten und damit auch das Schicksal der heroischen Expedition.


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