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VIII

Wie gerne hätte ich mich in den tiefsten Winkel der Erde verkrochen! Wie wohl wäre mir gewesen, hätte ich nicht leben müssen! Aber ich durfte meinem Leben jetzt kein gewaltsames Ende setzen. Ich mußte den Tatsachen ins Auge sehen und versuchen, die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, unbeirrbar so weit zu führen, als meine schwachen Kräfte reichten. Alles wäre leichter gewesen nach einer ruhig verbrachten Nacht. Aber von einem Ausruhen bis in den Vormittag war nicht die Rede, die Arbeit im Laboratorium mußte gemacht werden, und vor allem hatte ich die wahrhaft bittere Pflicht, mich zu der Witwe Walters zu begeben, deren übergroßer, überherzlicher Dank von gestern abend mich jetzt noch zu brennender Schamröte bedrückte.

Aber wenn ich bloß Angst davor hatte, wiederum von übergroßen Danksagungen, und unverdienten dazu, überschüttet zu werden, so hatte das Schicksal eine angenehme Überraschung für mich in Bereitschaft. Es kam nicht so weit. Wozu die Ironie? Die Tatsachen waren ernst genug. Schon bei dem Überschreiten der Schwelle des Zimmers hatte ich Schwierigkeiten. Bobby, das Hündchen der Witwe Walters, lag auf der Schwelle vor der Tür, im Sonnenschein eines strahlenden, infolge eines starken Windes angenehmen Morgens. Alle seine seidenweichen Haare glänzten. Der Atem ging ruhig. Es schlief. Oder es tat so, als schliefe es, denn es konnte sich nicht verkneifen, die Ohren bei meinem Kommen zu spitzen und den buschigen Schwanz ein wenig zu bewegen. Als ich vorsichtig über den Rücken des schönen, bläulich und goldgelb getigerten Hundes hinwegschleichen wollte, erwachte er vollends aus seinem Schlafe und glotzte mich böse an. Er war erschreckt. Wie alle aufgeschreckten Wesen war er bissig und ängstlich zugleich, und noch war ich mit dem linken Bein nicht über das Tierchen hinweg, als es fest zuschnappte, noch nicht mit der ganzen Schärfe seiner spitzen Zähnchen, aber doch stark genug, um meine Haut etwas bluten zu lassen. Dazu strengte das kleine Wesen seine Stimme an, es heulte, als wäre es getreten, als wäre es gebissen worden. Es japste, jammerte mit langen, nicht enden wollenden Tönen, als quäle ich es ebenso, wie in früheren Zeiten der nun schon unter der Erde liegende Walter es bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen gequält hatte, es hatte quälen müssen. Ich erinnerte mich dessen, und der Hund, der zwei Bezeichnungen trug, M-s-33 im Versuchsprotokoll, und Bobby für das Privatleben, erinnerte sich ebensogut.

Was nützen alle Erinnerungen? Nichts! Nur vorwärts! Das Zimmer, in das zu treten ich im Begriff war, war das gleiche, in dem die ärmste aller Kreaturen, die kleine Portugiesin, das bezauberndste, liebste Kind gelegen hatte, und jetzt schliefen hier die Witwe Walters und der kleine, zu früh auf diese schwere Welt geborene Säugling.

Fieberte die Frau? War sie auf dem Weg zur Heilung? Oder zum Grabe? Durch mein Verschulden? Ich wagte mich nicht vor. Ich wartete.

Unseligerweise war ich in diesem Augenblick unter der Nachwirkung der schlaflosen Nacht noch immer nicht ganz Herr meiner selbst. Ich erinnerte mich längst vergangener, unabänderlicher Dinge, mußte mich ihrer entsinnen, die mir mit allzugroßer greller Deutlichkeit vor Augen traten und mir die Sicherheit nahmen, deren ich an diesem Vormittag mehr bedurfte als jemals in meinem Leben.

Zu diesen Einzelheiten, die mir zur Unzeit ins Gedächtnis kamen, gehörte auch der kleine Hund, der mit gefletschten Zähnen unaufhörlich japsend vor der Tür stand und mich nicht hineinlassen wollte. Es hatte eine Begegnung mit ihm gegeben vor vielen Wochen. Walter hatte das Tier zu einem Versuch gebraucht. March, der sonst derlei Dienste verrichtete, war mit anderen Sachen beschäftigt gewesen und mir hatte es obgelegen, das Versuchsobjekt aus seinem Ställchen im Kellerkorridor zu holen, es an eine, nur zu diesem Zwecke dienende, alte, nach Blut und Chemikalien riechende Leine zu binden und hineinzuschleppen in das Laboratorium. Ich entsinne mich noch, wie das Tierchen mir zuerst willig folgte. Je näher es aber dem Laboratorium kam, aus dem die unterdrückten Leidens- und Schmerzenstöne kamen, die ein Leidensgefährte auf dem Operationstischchen ausstieß, desto widerwilliger war es geworden, es hatte sich gesträubt, mit allen vieren dem Boden entgegengestemmt, die Haare, wie sagt das Wort es doch so qualvoll deutlich, wie Stacheln gesträubt und in den schönen, goldbraunen Augen den Ausdruck der panischen Angst! einer fast menschlichen Angst. Mir war, als hätte ich Ähnliches noch nie erlebt. Ich rief mir »Nur los« und »Vorwärts« zu und zögerte doch, wagte mich nicht über die Schwelle. Aber was nützte es? Nichts. Ich mußte tun, was notwendig war. Das Tier hatte dann sehr gelitten. Es hatte keine Narben zurückbehalten. Alles war verheilt. Es hatte aber nicht vergessen. Das Leiden hatte es bissig gemacht. Denn vorher hatte es sich wohl gewehrt, aber es hatte nicht mit den blanken Zähnen gegen uns, Walter und mich, die das Tier auf den Tisch zogen, und gegen Carolus, der sich zwar nicht aktiv, aber als Zuschauer an der Sache beteiligte, gewehrt, wie es dies jetzt tat.

Machte also das bittere Leiden die Kreatur nicht besser? Oder war dieses Besserwerden durch Leid bloß eine besondere Eigenheit des höher entwickelten Menschen? Ich weiß es nicht. Was mir jetzt bevorstand, als ich das Tier fortgejagt und als ich durch die nun zu einem schmalen Spalt geöffnete Tür ins Krankenzimmer getreten war, bewies mir weder diese Tatsache noch das Gegenteil.

Die Frau lag im Bette. Das Zimmer, hell von der Vormittagssonne durchleuchtet, sah friedlich und sehr ordentlich aus. Ein altmodisches, kleines Badewännchen aus Zinkblech stand auf einem Sessel da, feuchte, saubere Windeln, je zwei und zwei, lagen über Stuhlrücken und auf Leinen zum Trocknen, es roch nach Milch und Kamillentee. In einer Wasserkaraffe standen in Ermangelung einer Blumenvase herrliche Blumen, Orchideen, wenn ich mich recht erinnere. Die Frau war blaß, aber ihre Augen waren klar. Kein Fieber noch. Klar und böse, haßerfüllt war ihr Blick auf mich gerichtet. Die Frau hatte die alte Kamelhaardecke ihres Mannes über das Bett gebreitet und sie bis an das Kinn emporgezogen. Das Kind lag schlummernd mit halboffenem Mäulchen in seinem Körbchen zu ihrer Linken.

Ich war unsicher. Sollte ich zuerst zu der Mutter kommen trotz ihrer flammenden Blicke? Sollte ich mich zuerst um das Kind kümmern?

Es war zum Glück offenkundig, daß das Y. F., einerlei wie das Experiment an der Mutter ausgefallen war, den Körper des winzigen Lebewesens nicht konnte ergriffen haben.

Wäre ich noch der alte gewesen, hätte ich mich zuerst der Mutter zugewandt. Vielleicht hätte ich dank des Einflusses, den ich stets auf Menschen ausgeübt hatte, die Lage beherrscht. So aber drehte ich, während ein ungewolltes, aber ebendeshalb nur um so heftigeres Erröten (welch eine Seltenheit bei mir!) mein Gesicht bis an den Haaransatz überflutete, mich über das Kind. Ich wollte es gerade aus der Wiege heben und hatte mit der Hand schon unter das leichte Körperchen gegriffen, hatte die feuchte Wärme, wie sie ein Kindeskörper um sich verbreitet, als beruhigend empfunden, als sich die Mutter ihrer Schwäche ungeachtet brüsk im Bette aufrichtete und, mit dem Oberkörper und den Brüsten sich weit herausbeugend, jäh nach dem Kinde griff, meine Hand mit ihrem Handrücken brutal fortstieß, und mir dabei die Worte ins Gesicht schleuderte:

»Rühren Sie mein Kind nicht an! Ich weiß alles!«

Aber mit diesem Leidenschaftsausbruch war ihre Kraft zu Ende. Sie konnte das Körperchen des Kindes nicht halten. Sie verfügte nach Tagen und Nächten des fürchterlichen Leidens nur noch über einen kleinen Bruchteil ihrer alten Kraft und mußte das Kind wieder fallenlassen. Ein Glück noch, daß die junge Pflegeschwester, die kurz nach mir eingetreten war und sich vor mich postiert hatte, ihren wutentflammten Blick von mir rechtzeitig losriß und sich um den Säugling kümmerte. Hastig nahm sie diesen, der eben leise zu quäken begann, von der Mutter fort und in ihre Arme, um ihn unter Absingung aller möglichen Kirchenlieder (als ob sie andere nicht kenne) zu beruhigen.

»Oh ja, gehen Sie doch, bitte«, zischte sie mir zu, nur mit diesen Worten ihren Singsang unterbrechend. Sie wies zornig mit dem Kopfe, während ihre weiße, breite, wallende Haube wehte, auf die Witwe Walters hin, die sich jetzt in ihrem krachenden und quiekenden Bette wie von Sinnen hin und her wälzte, die Kamelhaardecke zur Erde warf, stöhnte, sich die Haare raufte und in einem Atem mit ihrer mißtönenden Stimme mich und sich und ihren Mann verfluchte.

»Ich weiß alles?« überlegte ich. Nur durch March konnten sie und die Krankenschwester die Wahrheit erfahren haben. Hätte sie doch nur an mir ihre Wut und Verzweiflung ausgelassen, statt an sich selbst. Ich muß sagen, ich hätte leichteren Herzens das Krankenzimmer verlassen.

Ich sah sie an. Ihre Lippen waren fahl, von Leidenschaft verzerrt. Sie preßte, ohne zu wissen, was sie tat, ihre schweren Brüste mit beiden Händen zusammen. Sie bezwang sich, offenbar des Kindes wegen – wandte ihr Gesicht von mir ab zur Wand und beherrschte sich ebenso plötzlich, wie sie ihrem Wutanfall unterlegen war. Das Leiden hatte sie jedenfalls reifer gemacht.

Ich begriff, daß ich etwas nicht wieder Gutzumachendes in dem Dasein dieser Frau angerichtet hatte. Sie hatte Vertrauen zu mir gehabt, sie hatte sich in ihren Wahnvorstellungen vom Leben, das sie nicht erkennen wollte, wie es wirklich unabänderlich ist, an mich geklammert, an eine Lichtgestalt, ein Phantom. Sie hatte in mir den verkannten Menschenfreund, den zu Unrecht verurteilten und deportierten, hilfreichen und kenntnisreichen Arzt gesehen, hatte das Zeugnis ihres verewigten Mannes zu meinen Gunsten aufgerufen. Vielleicht hatte sie sogar in mir ihre künftige Stütze gesehen, denn sie wußte von einem »Vermächtnis« Walters an mich. Sie erinnerte sich vielleicht an gemeinsam mit ihm verfaßte Schriften, sie wußte von unseren letzten Gesprächen. Und wenn einem Menschen, glaubte sie mir ihr Leben und das Leben ihres Kindes zu verdanken.

Das Kind hatte am Mittag dieses Tages, wie ich von dem Amen-Geistlichen erfuhr, getauft werden sollen, und sie hatte das Kind bei dem heiligen Sakrament der christ-katholischen Taufe mit beiden Namen, »Walter« und »Georg« nennen wollen!

Sie hatte es gewollt; nun nicht mehr. Denn ich, Georg Letham, war es, der sie mit der gleichen furchtbaren Krankheit hatte anstecken wollen, der ihr geliebter Mann erlegen war. Y. F. Wir erklärt man das?

Das erklärt man nicht.

Man geht auf den Zehenspitzen, abgewandten Blickes, von dem Schauplatz seiner Taten ab. Schließt leise die Tür hinter sich, nachdem man als schwachen Trost das Hündchen sacht zu der Frau hineingelassen hat. Das Hündchen bellt vor Freude und tanzt im Zimmer umher. Die Schwester droht, das Kind quäkt, der Hund bellt – und lacht die arme Frau? Wie sehr wünschte ich ihr es. Wäre sie doch nur gerettet!


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