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XV

Walter hatte den Augenblick, mein Blut von den zu neuen Versuchen bestimmten Moskitos absaugen zu lassen, richtig gewählt. Denn schon am Morgen nach der geschilderten Szene war die Temperatur beträchtlich gefallen. Ich fühlte mich wie neugeboren – zwar knallgelb am ganzen Leibe, aber befreit von dem schrecklichen Druck im Kopfe, dem Erbrechen, den Schmerzen in der Oberbauchgegend und allem anderen.

Ich wußte, es war nur das trügerische Intervall. Ich wußte, diese Stunden relativ klaren Bewußtseins waren gezählt. Dennoch erwachte etwas wie Hoffnung in mir. Ich dachte zurück an mein vergangenes Leben. Ich dachte zurück an die kleine M., die ich geliebt hatte und immer noch liebte. Weshalb hatte ich gerade sie geliebt? Weil sie eben da war. Der Verstand folgt nicht.

Diese Liebe hatte mich nach außenhin nicht geändert. Alles, was ich erfuhr, hatte strengen Lebensgesetzen zwangsläufig gehorcht. Und hätte mich dieses späte Gefühl auch aus dem alten Georg Letham junior in ein ganz anderes Wesen verwandelt, auch dieses »ganz andere Wesen« hätte doch weiterleben müssen unter dem gleichen Namen, der gleichen Verantwortung, dem gleichen Weltgesetz und der gleichen Vergangenheit.

Nur das Zukünftige war offen. War mein Gefühl für die Frühverstorbene echt, so könnte ich einmal aus diesem Krankenzimmer als innerlich Verwandelter hinaustreten. Ich begann zu hoffen. Ich begann, mich zu freuen. Ich freute mich dieser Stunden des Freiseins von Fieber und Schmerz als eines großen Geschenkes. Zum erstenmal ging mir auf, daß ich mit meinem Leiden viel glücklicher sein konnte, als die Mehrzahl aller Menschen mit ihrem normalen Dasein.

Mein Anfall von Y. F. hatte einen Sinn. Zum erstenmal, seit dieses schauerliche Leiden Menschen quälte und vernichtete, hatte es einen Sinn. Es war ein notwendiges, die Wirklichkeit künftighin beeinflussendes Experiment. Es hatte eine große Beweiskraft. Ich lag zwar passiv da inmitten der schrecklichen Krankheit, aber ich war ihr überlegen dank meiner Einsicht und dank meines Willens.

Ich sagte mir, wenn ich auch die zweite, noch schrecklichere Periode, (man konnte sie nicht ausdenken und wollte es auch nicht, sondern hätte nur zu gern die wenigen guten Stunden restlos genossen), wenn ich aber doch auch die Probe der zweiten Periode mit dem Leben bestand, würden bessere Tage anbrechen, für viele und auch für mich.

Auch die Menschen, die um mich waren, hatten freudigere Mienen. Carolus berichtete mir, was schon die Leiterin des Hauses mir angedeutet hatte: wir, March und ich, sollten, wenn ich genesen sollte, nicht in die Camps kommen. Ich und alle zu lebenslänglicher Deportation Bestimmten, die an sich experimentieren ließen, sollten zum Dank für die freiwillige Hergabe ihres Körpers zu diesen Experimenten dem Staatsoberhaupt zur Begnadigung empfohlen werden. An diese Verbesserung unseres Schicksals hatte nur ein Walter denken können.

Die Impfungen wurden fortgesetzt. Bis jetzt hatte sich nur bei mir ein unzweifelhaft positiver Erfolg gezeigt. Aber Carolus schmunzelte und seine lederartige Gesichtshaut verzog sich zu einem komisch sein sollenden Grinsen, als ich ihn nach March fragte, der sich schon etwas lange nicht mehr an meinem Krankenbette gezeigt hatte. Aber er schwieg auf meine Fragen, als hätte er eine besonders freudige Überraschung für mich vorbereitet, der kahlköpfige lederne Schelm!

Die Lösung ergab sich sehr bald. Die kurze Periode meines trügerischen Wohlbefindens war bereits am Ende, als ich auf dem Korridor, der an meiner Tür vorbeiführte, das Getrappe der Schwestern hörte, die eine Bahre mit einem Kranken vorbeischleppten. War es ein frischer Fall aus dem Ort? Keineswegs! March war es, den man erkrankt in dem Nachbarzimmer einquartierte, so daß sein Bett, das an der linken Wand war, von dem meinen, das an der rechten Seite des Zimmers stand, nur durch eine Mauer getrennt war.

Ich ging wieder schweren Tagen entgegen. Die guten waren zu Ende. Mein Zustand wurde sehr schnell sehr ernst; er war noch qualvoller als früher. Und dazu diese Nachbarschaft! Das unterdrückte Stöhnen und Jammern des armen Jungen hätte meine Lage verzweifelt gemacht. Ich hätte dies alles nicht überstanden, wenn der neue G. L. nicht etwas besessen hätte, was der alte G. L. nicht gekannt hatte: Hoffnung, wie sie jedem neuen Leben vorangeht. Ich hoffte, solange ich bei dem stark ansteigenden Fieber eine Spur von Bewußtsein hatte, auf mein Davonkommen, und ich hoffte ebensosehr auch auf das seine, auf das Gelingen der Experimente, auf die Freiheit.

Mich muß das Bewußtsein zu dieser Zeit aber sehr bald verlassen haben, das letzte, dessen ich mich entsinne, war ein dumpfes, eintöniges, aber rhythmisch gegliedertes Pochen an der uns beide trennenden, ziemlich starken Wand. Nur ein paar Ziegelsteine waren zwischen uns, rechts lag sein fiebernder brennender Schädel, links der meine, möglichst horizontal, um den schauerlichen Würgereflexen besser gewachsen zu sein. Vielleicht mochten wir Fernstehenden, die uns gesehen hätten, wie die Experimentaltiere in den Käfigen unten im Souterrain erschienen sein, da diese ebenfalls die Köpfe in ihrer Leidenszeit möglichst eng zusammensteckten.

March war es, der trotz seines Zustands die Verbindung mit mir aufrechthalten wollte, und zwar durch Klopfzeichen, wie sie in den Gefängnissen an den Heizkörpern der Zentralheizung oder an den Wänden üblich sind oder an den Ableitungsrohren der Klosetts. Aber mochte er mir jetzt in seiner Morseschrift Liebesbriefe schreiben oder sich über die Grausamkeit der Experimente beklagen oder lustig machen, (ihm war alles zuzutrauen), mochte er mir im Telegrammstil noch unbekannte Kapitel aus seinem Lebensroman erzählen: – ich hörte bald nichts mehr. Genausowenig, wie ein Toter die Erdschollen auf seinem Sargdeckel rasseln hört, die ihm »liebende Herzen« in gegliedertem Rhythmus, das heißt ein jeder dreimal, auf sein letztes Dach schütten.

Die Schwestern, die derartig schwere Fälle wie meinen zu behandeln verstanden, scheuten keine Mühe. Ich wurde gepflegt, als wäre ich seine Exzellenz, der Herr Gouverneur in eigener Person. Die guten Nonnen und der Assistenzarzt, der etwas weniger Erfahrung hatte als sie, sparten nicht mit Adrenalin, um die Blutungen aus Mund, Magen und Darm zum Stillstand zu bringen, die Eisblase verschwand nicht von meinem gemarterten Schädel, man setzte mir ins Kreuz und in die Lendengegend Senfpflaster, um die höllischen Schmerzen, (wer hat den Schmerz erfunden – Gott oder Teufel?) zu lindern, man flößte mir löffelweise Milch, Gelee, Fleischsaft, Fruchtsaft ein, man knauserte auch mit dem teuren Sekt nicht, (Walter bezahlte ihn!), aber ich konnte an meiner eigenen wunden Zunge wahrnehmen, daß Sekt wohl etwas für genüßliche Zungen ist, nichts aber für solche, die keine Papillenschicht mehr haben. Ich muß genauso wie die meisten Schwerkranken getobt und mich wütend umhergeworfen haben. Ich hatte, als ich eines Nachts plötzlich etwas klares Bewußtsein gewann, die Schwester und den Priester neben mir, und fand Mörtelstückchen im Haare und in dem wüst gewachsenen Vollbart. Aber zu langer Betrachtung blieb mir keine Zeit, ich mußte notwendig erbrechen und tat dies auch. Wenn ein Mensch so leidet, ist ihm nichts mehr heilig. Von den anderen Explosionen ganz zu schweigen.

Ich erbrach mich. Aber zerbrochen war ich nicht. Mehr denn je wollte ich leben. Wenn einen schwer Leidenden überhaupt etwas beschäftigt, wenn ihm überhaupt irgendein umschriebener Gedanke klar wird, so ist es nur Selbstbehauptung. Weiterleben um jeden Preis!

So groß kann das Leiden gar nicht werden bei einem Menschen wie ich es jetzt war, daß ich nicht unter allen Umständen weiterleben wollte. Ich wollte nicht zugrunde gehen. In meinem Fieberwahn riß ich, als die Schwester nur einen Augenblick lang den Rücken gekehrt hatte, um die Leibschüssel fortzubringen, das sogenannte Merkblatt herab, auf dem mein Leidensweg in sauberen Kurven von der Hand des trefflichen Carolus aufgezeichnet war. Und trotz meiner Temperatur von einundvierzig Grad erkannte ich das Todesomen, die nach oben weisenden blauen und roten Linien, Puls und Temperatur und die nach unten weisende schwarze Linie der Entgiftung, der Urinausscheidung. Ich hatte in den letzten zwölf Stunden keinen Tropfen Urin von mir gegeben. Das war das sichere Symptom des baldigen Exitus.

Die Schwester kam mit gewaschenen Händen und immer zart lächelndem, mütterlich beschwichtigendem Gesicht zu mir zurück und wollte, daß ich Wasser lassen sollte. Ich konnte keinen Tropfen herausbringen. Tränen rannen mir ab, Harn nicht. Was vermag Menschenwille? Er zwingt die Natur nicht auf die Knie.

Sie zapfte mich an. Sie tat es ohne Scheu, und ich ließ es zu ohne Scham. Ich, der ich mich nicht einmal meiner Frau jemals unbekleidet gezeigt hatte!

Einer, der so leidet, ist kein Mann. Ja, ich sage, er ist kein Mensch mehr in gewöhnlichem Sinn.

Der Leidende gehört dieser Welt nicht mehr ganz an. Man muß ihn mehr lieben, als es der Mensch sonst zu verlangen hat. Mehr als er es verdient. Viel mehr.

Die Schwester tat nur ihren Dienst. Es störte sie nichts, weder mein schauerlicher Aasgeruch, noch sonst etwas auf der Welt. Sie experimentierte nicht. Sie tat, was notwendig war. Sie brachte eine Erleichterung. Sie zapfte mir wider Vermuten dreihundert Gramm gallebraungrünen Harn ab, und in der Art, wie sie das Glasgefäß an das Licht nach oben hielt, sah ich, daß sie selbst diese relativ kleine Menge in ihrem unerschütterlichen Glauben als gutes Omen betrachtete.

Marchs Zimmer war totenstill. Mir kamen Tränen in die Augen, es fröstelte mich und ich schlief ein.


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