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III

Seit dem (mir jetzt nicht mehr) rätselhaften Verschwinden meines Bruders bin ich fest entschlossen, das höchstmögliche Maß von innerer und äußerer Freiheit zu erlangen. Der erste Paragraph dieses meines Freiheitsgesetzes lautet, daß ich mich nach Tunlichkeit ohne eine Ausnahme von meinen Mitgefangenen abschließe. Leicht wird es nicht immer sein. So darf es zwischen mir und meinem Handgefährten zu keinem Austausch von Zigaretten kommen, zu keinem Gespräch, obwohl sich alle ringsum in der größten Lebhaftigkeit unterhalten.

Und erst die Rufe nach außen! Nach Liebe schreien sie – und Tabak meinen sie. Aber das letztere bekommen sie nicht und von dem ersten haben sie nichts. So lassen sie denn ihre Sehnsucht in besonders leidenschaftlichen Unterredungen und Streitereien untereinander aus.

Anders mein Gefährte, der große, hübsche Junge. Er ist still. Er hält sich zurück. Es geht von ihm, wie soll ich sagen, etwas allgemein Verständliches, etwas Erquickliches, etwas Liebenswertes aus, das einen an ihn ketten könnte. Man könnte zur Not sogar verstehen, daß dieser Mann seine Schuld um eines anderen willen auf sich genommen habe. Oder daß er aus einer fanatisch, kindisch festgehaltenen, irren Idee heraus gehandelt habe. Für ein Ideal ohne Gegenwert.

Der Mann sieht jetzt elend aus. Er leidet. Er hat gelitten. Er wird leiden.

Er fesselt mich und dennoch rede ich ihn nicht an. Wir sind zwei exklusive Fremde, bloß durch Zufall aneinandergeraten. Reisebekanntschaften. Wir sehen uns an, wir müssen ja einander mit den Blicken begegnen. Hebt er die Hand, hebe ich die Hand. Geht er zur Seite, folge ich ihm. Treue Brüder; treuer, als die Natur die Brüder schafft. Denn, seien wir ehrlich, die besten Brüder sind es nicht, welche die Mutter Natur uns gibt.

Nein? Ich bleibe allein, weil ich es will. Ich will es, weil ich muß.

Jetzt ist der Augenblick gekommen, da ich mir meine Lage zum erstenmal seit langem wieder klar überlege.

Was mir bevorsteht, ist in den Augen der meisten Menschen ärger als Tod, wird aber doch dem Tode vorgezogen. Hier auf dem von prallster Hitze und übelsten Dünsten erfüllten Hafenplatze im Rücken der Wachsoldaten mit den Eierhandgranaten, hier beginnt es nicht. Noch auch endet es hier.

Zurück in die Vergangenheit und dann erst Suchen nach der besten Methode für künftige Zeiten!

Die Wachsoldaten hören jetzt auf, sich träge wie Würmer zu rekeln. Sie richten sich stramm zur Ehrenbezeigung auf. Denn eine Anzahl von Schiffsoffizieren erscheint, bartlose, blühende junge und ältere Herren in zwangloser Reihe, in Weiß oder Khaki, frisch geplättet, die semmelfarbenen Tropenhelme auf den Köpfen, lustwandeln, von der holden Damenwelt und einer Unmenge dienstbarer Geister begleitet, an uns Parias vorbei zu den Treppenstufen der Hafenmole, um die Staatsbarkasse zu besteigen, die schon unter Dampf steht, um die hohen Herren keine Sekunde im Sonnenbrand warten zu lassen. Stahlgrau, blitzend blank geputzt, Messingstreifen um den kurzen Rauchfang gefügt, bullernde Dampfwölkchen in die vor Hitze vibrierende Mittagsluft ausstoßend, Fähnchen an den Antennenmasten, wiegt sie sich, von kreischenden, schneefarbenen Möwen umflogen, die mit einer Seite ihrer perlmutterartig schimmernden Fittiche das Wasser streifen und niedergleitenden Hydroplanen gleichen, auf der klar spiegelnden Fläche der See.

Das hügelartige Gelände der Stadt wird durch silbern und grün belaubte, nahe beieinander auf dem Platze stehende Bäume verdeckt. Durch einen Spalt zwischen ihnen sieht man die Gebäude an den Ausläufern der Stadt, kalkweiße Villen in Gärten gebettet, dann, weiter hinaus, blechgedeckte Kasernen, ins Wasser hinausgebaute, scheunenartige Hangars für die Hydroplane der Seestation.

Wenn ich nur genug Willen habe! Wenn ich nur mitleidslos und rücksichtslos genug bin gegen mich und andere im Kampfe aller gegen alle ums Dasein! Wenn ich fortfahre in der Schule meines Vaters ... dann, aber auch nur dann habe ich niemandem außer der absoluten Notwendigkeit meinen Tribut zu zollen. Dann bin ich praktisch auf der Höhe meiner Lage.

Der sühnende Staat will mich abschrecken? Dies ist nicht nötig. Denn eine Tat gleicher oder ähnlicher Art werde ich niemals begehen. Niemals mehr.

Der Staat will das Üble, das ich andern getan habe, an mir vergelten? Weil ich andere leiden gemacht habe, soll ich selbst leiden?

Der Staat schütze sich und seine »liebenden Herzen«, wie er kann. Ich habe mich selbst zu schützen. Laß mich mich behaupten! Ich soll nur zwei, drei Jahre, ohne zusammenzubrechen, dort ausharren, wo unzählige andere unter den Schwierigkeiten des abnormen Lebens, an Klima, Melancholie und Malaria zugrunde gegangen sind.

Die größte Strafe liegt in etwas anderm. Auf Menschen angewiesen sein und in ihnen alles andere als teilnehmende Gefährten des Leidens, in ihnen nur Todfeinde zu sehen, sehen zu müssen – ich habe erfaßt, was Deportation, was Zuchthaus bedeuten. Hier innere Konflikte, dort tödliche Seuchen. Aber trotz Tod und Teufel ungebrochen dastehen, solange ein Fünkchen Leben in dir ist, G. L. der jüngere, ist das nicht eine Aufgabe, die dir das Dasein lebenswert machen müßte, wo immer, wie immer? Ja! Vielleicht halte ich mich. Vielleicht kehre ich doch einmal von der Strafinsel zurück.

Wäre ich nur im tiefsten Grunde einig mit mir selbst! Ja, ja! Könnte ich doch nur dem Dasein als Gesamterscheinung meine Zustimmung geben! Könnte ich mich vor dem »Wunderwerk der Schöpfung Gottes« in kritikloser Anbetung beugen! Beten! Könnte ich endlich der logischen Verzweiflung Herr werden, die mich entwurzelt, mich aber auch klar gemacht, die mich gelähmt, aber auch geschützt und beschirmt hat seit den entscheidenden Versuchen meines Vaters an mir als Kind! Dann laßt mich heran an das Schicksalsrad! Ich werde es drehen. Die Toten stehen nicht mehr auf. Aber es erhebt sich einer vielleicht zu neuem Leben. Keine Schwierigkeit wäre mir zu groß. Ich wäre der erste nicht, dem eine Flucht geglückt wäre.

Ich habe meine linke Hand krampfhaft an das Herz gerissen in diesem Energieaufschwung. Die rechte Hand meines Gefährten muß folgen. Er lacht hellauf. Aber weshalb geht sein fieberhaft strahlender Blick an mir vorbei? Gilt denn das prachtvolle, herzerhebende Lachen nicht mir? Nein, dem Photographen hat er lachend zugenickt, dem Pressereporter hat sein Lachen gegolten, mit dem er protzt: Seht her, mit Ketten beladen, zu soundsoviel Jahren Zwangsarbeit verdonnert – und ich lache noch!

Eitelkeit ist der Grundzug auch dieses Charakters. Ist es der Grundzug auch des meinen? Jedenfalls endet dieser mein Aufschwung wieder in einer zerstörten Illusion. Nächstes Mal werde ich noch abgehärteter, abgebrühter sein. Der Alte hat recht gehabt. Wie er das Leben nach seiner verunglückten Nordlandexpedition sah, so war es.

Mein Gefährte nimmt von seinem schöngeformten, länglichen, glattrasierten Schädel die Mütze ab trotz der furchtbar stechenden Sonne, er wirft sie in die Luft, wobei sich das Ding wie ein brauner Schmetterling in der Luft um seine Achse dreht. Dann fängt er sie zwischen seinen Knien auf. Endlich richtet er sich stramm auf wie ein Schauturner am Reck bei einem athletischen Wettbewerb. Er bastelt an sich herum, um sich schön zu machen – und alldas, obwohl er zu fiebern scheint. Ach, gut. Wir wissen es, du hast die Aufmerksamkeit der Presse auf dich gezogen, und die öffentliche Meinung des Tages hat es auf dich und nicht auf mich abgesehen. Lache! Zeige deine hübschen, perlengleichen Kinderzähne. So und nicht anders wird der Pressephotograph dein Konterfei der staunenden Mitwelt im Sonntagsblatte darbieten. Aufgepaßt: Eins – zwei – drei – los! Jetzt erst rasselt der Schlitz des Apparates, die Platte drüben in der Ferne ist belichtet, der dramatische Moment ist vorbei – und der Reporter hat so gut wie sicher seine fünf Dollars (mit Reproduktionsrecht sind es sogar zehn) verdient. Ihr könnt alle lachen und zufrieden sein! Und winkst du dem Reporter mit der Mütze, antwortet er dir vom Balkon aus mit seinem Taschentuch. Friede auf Erden. Allen Menschen ein Wohlgefallen und hoffentlich weder Kratzer noch Lichthof auf der Platte und die Entfernung richtig geschätzt und den Sucher, alles Dreck ...

Als die Aufnahme gemacht ist, sinkt der schöne Mann zusammen. Ich fühle es ja, ich bin »mitfühlend« geworden, da ich an ihn festgenietet bin. Ich merke auch durch seine schwabbelige Sträflingsmontur hindurch seine erhöhte Temperatur. Niemals waren Patient und Arzt näher aneinander gebunden.

Als letzter hat sich ein hoher, hagerer Offizier mit Generalsabzeichen über den Laufsteg zu der wieder zurückgekehrten Barkasse hinbegeben. Sein storchenartiger Gang kommt mir bekannt vor, er erinnert mich an den Oberstabsarzt Carolus im bakteriologischen Institut. Aber das Gesicht kann ich aus der Entfernung nicht erkennen.

Ein kleines Mädchen mit seiner Bonne, die ihn anscheinend begleitet haben, sind nun am Ufer zurückgeblieben und ebenso ein winziges, wollig behaartes Hündchen, mit einem himmelblauen Band und einer blitzenden kleinen Schelle geschmückt. Das Kind winkt dem langen General auf der Barkasse zu, er winkt zurück mit seinem Tropenhelm, wobei er einen Kahlkopf von kürbisartiger Form entblößt. Das muß doch Carolus sein!

Das Dienstmädchen hält das Kind, das sich aufgeregt vorgebeugt hat, an seinem seidenen Gürtelchen zurück. Das Hündchen bellt lebhaft und winselt, es reißt sich los, läuft mit erhobenem Schwänzchen, aufgeregt wie seine Herrin, am Ufer hin und zurück, jeden Augenblick bereit, ins Wasser zu springen und seinem Herrn, dem alten General oder Generalarzt zu folgen. Unermüdlich winkt das Kind. Das strohgeflochtene Hütchen verrutscht, das Kind setzt es mit einer schnellenden Bewegung des zarten Hälschens wieder zurecht. Das Hündlein hat sich zu Füßen des Kindes wieder getreulich eingefunden und streckt, atemlos vom Bellen und Rennen, das himbeerfarbene Zünglein heraus. Über Kind und Hund hält die Bonne einen dunkelblauen Leinensonnenschirm. Mit der freien Hand schwenkt auch sie ein Tuch. Leb wohl, leb wohl, du wackerer Krieger im Schmuck der Waffen!

Zwar trug er keinen Säbel, nur den Degen, er ist dann doch kein Held, sondern nur Verpflegungsgeneral oder Generalarzt. Welch eine rührende Familienszene! Und nicht minder ergreifend die Abschiedsszenen, welche die Angehörigen der Gefangenen, die »liebenden Herzen« aufführen. Ich rauche eine Zigarette, die erste am heutigen Tage.


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