Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X

Ich kehre zu meinem Vater zurück.

Zu den Untergebenen meines Vaters in seinem Amte gehörte auch ein gewisser La Forest, dessen Bruder der bereits erwähnte Weltpriester und Religionslehrer an unserer Mittelschule war. Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grunde mein Vater auf diesen Mann seinen Haß geworfen hatte. Er, La Forest, mußte sich meinem Vater einmal zu sehr ungelegener Stunde überlegen gezeigt haben. Wieso, warum, erfuhr man nicht. Aber er war ihm zuwider wie die Ratten. Aber er war ihm zur gleichen Zeit so gut wie unentbehrlich. Er war ein Mensch von ungewöhnlichen Fähigkeiten, hatte Energie, Einsicht und Wissen, war im Besitze von eisernem Fleiß, unerschütterlichem Gleichmut, sehr starkem und zugleich restlos beherrschtem Ehrgeiz und war zu alledem noch mit einer ordentlichen Portion trockenen Humors gesegnet, eine Mischung, wie man sie selten findet. Auf ihn traf weder das Rattige noch das Fröschige zu, er war ein Mann.

Mit den Ratten in seinem alten Hause konnte mein Vater lange Zeit nicht fertig werden. Sie trotzten allen seinen Bemühungen, sie zu vertilgen, aber er gab den Kampf nicht auf. Ich erzähle das Schlußkapitel dieses Kampfes später. Nun hatte er sich ein anderes Ziel gesetzt, den jungen La Forest (etwa dreißig Jahre, also jung im Vergleich zu der hohen Rangstufe, die er bereits bekleidete) aus dem Amte zu entfernen. Und bei dieser Gelegenheit sollte ich, sein Sohn, längst schon mit den Intrigen und Schachergeschäften des Ministeriums bekanntgemacht, auch ein Exempel praktischer Menschenkunde und Menschenbehandlung erlernen. Unrecht Gut gedeihet nicht. Aber auch rechtes Gut kann man am Gedeihen verhindern, wenn man die Sache versteht, wie mein Vater sie verstand, dem La Forest zu tugendhaft war.

Das Ziel war, La Forest dazu zu bringen, selbst einzusehen, daß sein weiteres Verbleiben im Amte unzweckmäßig sei, so daß er selbst den Abschied nahm.

Vorerst tastete sich mein Vater an seine Aufgabe dadurch heran, daß er in der Ferienzeit des Beamten La Forest bei seinen Kollegen (unter dem Siegel strengster Diskretion) Umfrage hielt. Er äußerte sich nicht über den Zweck dieser Umfrage, es konnte sich ebensogut um Material zwecks schnellerer Beförderung, als zwecks Ausbootung des La Forest handeln. Aber die subalternen Kreaturen haben eine feine Nase für die unausgesprochenen Wünsche ihres Vorgesetzten, sie errieten, was mein Vater wollte, und als La Forest wiederkehrte von seinen schönen Urlaubstagen, war die Stimmung seiner Leute gegen ihn, er hatte Widerstände in seinem Ressort zu überwinden. Wichtige Schriftstücke wurden unrichtig expediert. Regelmäßig wiederkehrende Statistiken wurden nicht abgeliefert, und als Urgenzen kamen, entschuldigten sich die Untergebenen, sie hätten nur auf den ausdrücklichen Auftrag des La Forest gewartet und ihn nicht mahnen wollen.

Aber La Forest war ein guter Organisator. Er arbeitete Nächte hindurch, nicht, um die Aufgaben seiner Untergebenen selbst auszuführen, sondern, um einen Arbeitskalender zu entwerfen, der keinerlei Versäumnisse zuließ. Er machte keinem der unbotmäßigen Kollegen und Untergebenen Vorwürfe, er stellte nur sein Programm auf und führte es durch.

Mein Vater war gescheitert. Er zog auf dem Schachbrett noch einmal. Er stellte La Forest neue Aufgaben, denen er hoffentlich nicht gewachsen war. Er wußte, ein La Forest würde sich ihnen nicht entziehen, sondern sie als Auszeichnung empfinden. Er rechnete damit, der Ehrgeiz des Beamten würde größer sein als seine Kraft. »Bestimmen Sie selbst einen Termin, zu welchem Sie mit dieser Arbeit fertig werden können.« Tatsächlich war die Aufgabe größer, als daß sie ein einzelner neben seinem regulären Arbeitsprogramm bewältigen konnte. Aber La Forest hatte Mitarbeiter gefunden (ich vermute, seinen Bruder, den Geistlichen, der zu jener Zeit leichenfahl und aufs äußerste abgespannt zum Unterricht kam und sich keinem von uns Schülern mehr »privat« widmen konnte), aber die Brüder hatten die Sache geleistet. Mich behandelte er (der Geistliche) von jetzt an mit größter Zurückhaltung und beschränkte sich strikt auf seine schulmäßigen Aufgaben.

Mein Vater tat den dritten Zug. Er setzte dem La Forest einen bekannten Streber (einen richtigen »Frosch«) zur Seite. »Sie sollen entlastet sein, müssen sich schonen«, sagte er mit seinem freundlichsten Lächeln, »Sie sind doch einverstanden?« La Forest sollte sich zur Puppe erniedrigt sehen. Die Folgerungen waren leicht zu ziehen. Und dennoch täuschte sich mein Vater; denn La Forest stieß sich niemals an der Person, er hielt sich an die Sache, drängte sich weder vor, noch gab er Anlaß zu Konflikten. Sein Charakter war so ausgeglichen, daß ihm selbst das schwierigste Kunststück gelang und er sogar den ordenshungrigen Frosch zu seinem Freunde machte. Als mein Vater dies erfuhr, warf er den Frosch in den Orkus zurück, versetzte ihn in eine Landstadt auf einen subalternen Posten, von dem es keinen Aufstieg gab.

La Forest war stark. Mein Vater machte seinen vierten Zug. Er reizte ihn. Er verärgerte ihn. Er nörgelte, machte spitze Bemerkungen, ohne sie zu begründen, kritisierte die Arbeit des La Forest abfällig, bevor er sie geprüft hatte.

»Sie kennen aber meine Referate noch nicht«, wandte La Forest ein.

»Bitte, überlassen Sie die Entscheidung mir«, antwortete mein Vater von oben herab. Er machte persönliche, boshafte Bemerkungen, im gleichen Atemzug begütigte er den Beamten wieder, bagatellisierte ihn, kam mit Ironie, so daß jeder andere vor Wut geplatzt wäre.

»Beinahe hätte er heute auf den Tisch geschlagen«, sagte er zu mir, dem er alle Phasen dieses bürokratischen Zweikampfes berichtete, »beinahe! Zum Unglück wurde ich gerade zum Minister gerufen, und als ich zurückkehrte, war La Forest wieder guter Dinge und bot mir eine Zigarette an.«

»Hast du angenommen?« fragte ich.

»Warum nicht?« sagte mein Vater. »Aber ich werde in seine Beamtenqualifikation schreiben, ›La Forest läßt leider oft die nötige Distanz zwischen Vorgesetzten und Untergebenen vermissen.‹ Ich werde ihm den Akt wie aus Versehen in eine leicht erreichbare Schublade legen und werde herausbekommen, ob er das Dokument mit seinem Namen auf dem Aktendeckel und mit der Aufschrift ›Streng geheim‹ liest.«

La Forest dachte nicht daran. Er las nie fremde Briefe, fremde Akten waren Luft für ihn, und von »streng geheim« hielt er überhaupt nie etwas.

Jetzt versuchte mein Vater noch einen Zug. Er bat La Forest zu uns ins Haus. Ich lernte ihn endlich von Angesicht kennen. Er gefiel mir ausgezeichnet. Mein Vater hatte ihn absichtlich warten lassen, und der Mann war zu mir gekommen. Er war ein zwar abschreckend häßlicher, äußerst wortkarger, aber manuell sehr geschickter Mensch, der mir bei der Instandsetzung eines zerbrochenen, elektrisch betriebenen Spielzeuges half. Er kniete mit mir am Boden und hielt den Schraubenzieher zwischen seinen Zähnen. Wir brauchten eine halbe Stunde Arbeit, bis alles lief. Das kostbare Spielzeug war früher nie in Bewegung zu setzen gewesen, und alle Mechaniker hatten es aufgegeben, den verborgenen Fehler zu finden. La Forest war so methodisch, daß es ihm gelang.

Mein Vater hatte ihn absichtlich lange mit mir allein gelassen. Ich fragte La Forest allerhand, auch nach seinem Bruder, dem Geistlichen. Er antwortete unbefangen, wie es schien, ohne die geringste Verlegenheit und behandelte mich wie einen Gleichaltrigen, was einem Jungen immer Freude macht.

Nun versuchte mein Vater es mit dem Überlob. Mein Vater schmierte dem Mann soviel Honig ums Maul, daß ich mich seiner schämte. Aber mein Vater war der Ansicht, daß kein Mensch jemals an diesem Honig erstickt sei. Lob könne jedermann in unbeschränktem Maße vertragen. Aber mein Vater rechnete dennoch auf eine besondere Wirkung dieser Lobhudeleien, der Untergebene sollte im Vertrauen auf seine anerkannte Tüchtigkeit einen Schnitzer begehen oder, was noch fluchwürdiger war, seinen Herrschaftsbereich, seine Kompetenzen übertreten. Mein Vater ging sogar so weit, daß er dem Minister von der besonderen Tüchtigkeit des La Forest berichtete, um dann im erwarteten Fall eines Versagens seiner Exzellenz sagen zu können: » So viel habe ich, wie Euer Exzellenz wissen, von diesem Mann erwartet, so weit bin ich ihm entgegengekommen und so schmählich sind wir getäuscht worden.«

Aber so sonderbar es klingt, mein Vater erlitt in diesem Fall Schiffbruch. La Forest überspannte auch seine gehobene Stellung nicht. Er tat seinen Dienst, war im Privatleben anspruchslos, bescheiden und frohgemut. Er sowie sein Bruder hatten sich systematisch durch große Entbehrungen emporgearbeitet, und das Resultat war, daß La Forest von dem Minister in eigener Person dem Leiter eines großen Industriekonzerns empfohlen wurde, der einen Organisator von ungewöhnlichen Fähigkeiten suchte. Die damit verbundenen Vorteile, Tantiemen, eigenes Haus, Auto, Aufsichtsratssitze in anderen Gesellschaften etc. waren so außerordentlich bedeutend, daß es meinen Vater wurmte, daß man nicht an ihn gedacht hatte. Warum hatte man ihm diesen Posten nicht wenigstens angeboten? Er hätte zwar nein gesagt (als reichen Mann lockte ihn Macht noch mehr als Geld) aber er hätte sich in der Pose eines staatstreuen, opferwilligen, hohen Beamten gefallen, der großmütig riesige Einkünfte laufen läßt, um für verhältnismäßig dürftigen Lohn um der Ehre und des Vaterlandes willen – sein Leben in Mühe und Arbeit zu fristen!

Der Geistliche sollte mitkommen und die ausgebreiteten Wohlfahrtseinrichtungen der Werke organisieren. Er nahm von uns allen gerührten Abschied, schenkte jedem ein (von der wohllöblichen bischöflichen Presse approbiertes) Buch, das mein Vater daheim sogleich in die hintere, nämlich die zweite, die finstere Reihe des Bücherschrankes versteckte. Mit feuchten Augen drückte der geistliche Herr jedem von uns der Reihe nach die Hand und ging ab. Ich habe von keinem der Brüder nachher etwas gehört – oder doch, mein Vater erzählte einmal, daß La Forest wieder die Rückkehr in den Staatsdienst plane. Ob man ihn hatte zurückholen wollen – oder ob er des allzudick bestrichenen, schwer verdaulichen Butterbrots der Industrie vorzeitig überdrüssig geworden war, darüber sprach mein Vater nichts, und ich fragte auch nicht danach. Mein Vater hat nie einen Ersatz für ihn gefunden.

»Ach, La Forest«, seufzte er oft, wenn er verärgert aus dem Amte kam. Es war und blieb ein empfindlicher Punkt für ihn. »Einmal und nie wieder!«


 << zurück weiter >>