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IV

Die Schwierigkeiten, die sich bald in ungeahntem Maße steigern sollten, begannen schon jetzt. Sollte man die Mücke sich an dem Blut des ungeduldig werdenden Jungen übersatt trinken lassen bis fast zum Platzen oder sollte man sofort ein zweites, drittes, viertes bis xtes Insekt an dem Jungen saugen lassen? Ich war dafür, nicht lange zu warten, Walter dagegen. Vielleicht ahnte er, was kommen würde, er wollte es bei einer Mücke bewenden lassen, und wollte dem kranken Jungen, der schon ungeduldig wurde und sich ungeschickt wehrte, den zweiten Anstich ersparen. Er hatte eben anscheinend mit Menschen noch nicht experimentiert, oder er war durch die Aufregungen der letzten Zeit weicher geworden, als es die Lage gestattete. Ich nahm also die Mücke nach etwa drei Sekunden ab, wobei ich mich eines kleinen Stückchens Papier bediente, um sie sanft von der quaddelartig aufgeschwollenen Haut des jungen Y. F.-Kranken zu entfernen. Dieses Papier stammte aus der englischen Taschenausgabe des Hamlet, die ich am Morgen des Tages unter meinen Habseligkeiten zufällig gefunden und zu mir gesteckt hatte. Es waren die Worte am Beginn des zweiten Aktes: ... doch wozu das Zeug zitieren, genug, es tat seinen Dienst und das Insekt mußte notgedrungen ablassen. Sein Hinterleib wies jetzt gerundete Konturen auf, durch die das Blut, rubinartig schimmernd, hindurchleuchtete.

Erster Akt – aus, Beginn des zweiten. Nämlich Stich an Marchs entblößtem Oberarm. Das Insekt hatte nun reichlich Y. F.-Blut in seinem Leibe, in seinen Speicheldrüsen, seinem Beißstachel – es sollte also dieses Blut auf den gesunden, kräftigen March durch einen Stich übertragen.

Vorsichtig transportierte ich das Tierchen, es einerseits mit dem Wattebausch des Glasröhrchens, andererseits mit dem Hamletfragment festhaltend, auf Marchs Oberarm, und wir warteten alle gespannt, (auch der kranke Junge guckte trotz seines Fiebers jetzt, wo die Mücke fort war, interessiert zu, seine Somnolenz war gewichen), ob die Stegomyiamücke ein zweites Mal anbeißen würde, um die Keime zu übertragen – aus dem Blut – durch das Blut – in das Blut?

Sie saß da, das letzte Beinpaar wippte nicht, sie hatte den Kopf gesenkt, der winzige Stachel, feiner als die feinste Nadel, berührte Marchs Haut. Aber stechen tat sie nicht. Beißt sie? fragte immer wieder einer der anwesenden Herren. Sie lächelten, vielleicht nur aus Nervosität, und doch empörte es mich. Offenbar zweifelten sie im Herzensgrund an unseren Experimenten, oder ich bildete es mir ein. Ich hatte oft Zweifel vor einem Experiment, ich hatte ebensooft Zweifel nachher, aber nie, während ich meine Pläne in die Tat umsetzte. Carolus, der lederne Gesell, konnte das dumme Witzwort nicht unterlassen, die Mücke, als weibliches Wesen, müsse doch an einem so leckeren Mann anbeißen. Tatsächlich war March ein hübscher, wenn auch etwas weiblicher, jedenfalls aber wohlgestalter Mensch, dem schon wegen seines auch jetzt gepflegten und ansehnlichen äußeren Wesens immer die Sympathien sicher waren.

Tatsache aber war und blieb, daß die Mücke zwar unbeweglich bald zwei Minuten dahockte, aber nicht stach. Plötzlich tat sich die Tür auf, die Oberin trat ein. Der elende Carolus hatte wieder einmal vergessen, die Tür, wie Walter ausdrücklich angeordnet hatte, hinter dem Assistenzarzt abzusperren. Die würdige Dame konnte einen Ausruf des Staunens nicht unterdrücken und wahrhaftig, ein Bild für Götter! Hier der im Bette sich aufsetzende Junge, mit vor Fieber und Neugierde blitzenden Augen, der sich freute, daß nun auch einer der Ärzte (denn für einen Arzt hielt er March) gestochen werden sollte, wie er selbst gestochen worden war. Dann March und Carolus und ich und der Geistliche, alle um ein blutgeschwollenes winziges Insekt im Kreise versammelt und es im Herzen beschwörend, es solle wacker stechen.

Ich hatte jetzt Walter die Eprouvette, das Glasröhrchen, anvertraut, das er über dem Insekt halten sollte, damit es keinesfalls entwische. Aber ich habe schon gesagt, die niederträchtigen Familiengeschichten hatten ihn entmannt, er konnte nicht einmal richtig assistieren, und sobald die alte Schwester oder Oberin, oder was sie war, ins Zimmer trat, vergaß er sich, blickte empor, hob das Röhrchen unwillkürlich in die Luft, und das Biest entschwirrte mit seiner kostbaren Ladung im Leibe, ohne March gestochen zu haben. Welche Verwirrung! Wir jagten jetzt alle der Mücke nach. Sie schwirrte im unerträglich dumpfen Zimmer hin und her, im Zickzackfluge, Haken schlagend wie ein alter Hase, so jung sie war. Und wir hinter ihr her, zum Ergötzen der Oberin, die ihre schönen, gepflegten Nonnenhände in der Tasche ihrer frisch gestärkten Schwesterntracht versteckte und nach Herzenslust lachte.

Ich brauche nicht zu sagen, daß wir das Biest nicht fanden. Wir brannten (es wurde Abend) das elektrische Licht an, wir leuchteten auch mit Taschenlaternen in alle Winkel und Ecken des Zimmers, aber das Tier mochte von uns genug haben, es hatte sich in einen dunklen Winkel verkrochen, verdaute, war dort in seiner Winzigkeit sicher vor uns und kam nicht hervor. Was war zu tun? Ich bat die Schwester sehr höflich, sehr liebenswürdig und bestimmt, uns noch eine Viertelstunde allein zu lassen und traf weitere Anordnungen. Ich sah jetzt ein, daß man entweder die ganze Versuchsreihe aufgeben müsse – aber ich hätte jetzt lieber Selbstmord verübt, als meine Idee loszulassen – oder aber ich mußte alles in meine Hände nehmen.

Was war ich? Ein auf Lebenszeit verschickter, abgeurteilter Verbrecher, ein rechtloses Individuum, ein passives Objekt der Gefängnis Verwaltung. Aber sobald ich meine Energie entwickelte (und es war noch ein Rest der alten Willenskraft in mir), fügten sich mir sonderbarerweise die Lebensumstände und vor allem selbst die Menschen, die sozial und nach Recht und Gesetz jetzt hoch über mir standen. Denn ich besaß noch etwas anderes außer meiner Energie, nämlich die Logik, den ungehemmten Forschungsdrang und ein ungetrübtes Urteil. Ich kann dies, ohne unbescheiden zu sein, sagen, denn meine Ansicht hat sich bewährt. Vielleicht konnte nur ein Mann meiner Art diese Aufgabe hier lösen, ein Sohn meines Vaters und seiner Erziehung.

Es handelte sich einfach um folgendes. Sollte man den Versuch abbrechen? Und wenn nicht, sollte man jetzt noch mehrere hungrige, junge, weibliche Mücken an dem kleinen Jungen da saugen lassen? Oder sollte man unter diesen Umständen lieber andere Patienten dazu heranziehen?

Ich war dafür, bei dem Jungen zu bleiben. Und zwar aus folgenden Gründen: Es war ein frischer Fall. Ich hatte den Eindruck, (der sich freilich nicht auf logische Erwägungen, sondern mehr auf Intuition stützte), daß im Blute der frisch erkrankten Menschen das gefährliche, krankmachende, ansteckende Virus am sichersten zu finden sein müsse. Wenn überhaupt eines, war ihr Blut am geeignetsten, eine Infektion von Mensch zu Mensch im Experiment hervorzurufen. Die Sache mit der kleinen Portugiesin war für mich nicht bloß ein sentimentales Liebeserlebnis gewesen, sondern auch eine genaue ärztliche Studie.

Ich habe davon gesprochen, daß der ersten, der Anfieberungsperiode, eine fieberfreie Zeit folgt und nachher eine Art Vergiftung. Ich hatte gesagt: die Vergiftung steigt, die Entgiftung sinkt. Ich entsann mich der nach oben weisenden Linien der Temperatur und des Pulses und der nach unten weisenden Kurve der Harnausscheidung. Diese Tatsachen sind bis jetzt noch jedem Beobachter aufgefallen, oder, besser gesagt, nicht aufgefallen. Denn nur ich schloß aus diesem merkwürdigen Verhalten, daß die Keime nur bis zur ersten Entfieberung, (an die sich bei manchen glücklich verlaufenden Fällen gänzliche Heilung anschließen kann) unbedingt noch frisch und wirksam im Blute kreisen. Dann werden sie durch Gegengifte im Körper zerstört und diese zerstörten Y. F.-Keime, die im Blut sich auflösenden sterblichen Überreste dieser Keime, diese erzeugen erst Gifte. An dieser Vergiftung leidet der Kranke im dritten Stadium. Und so geht er unter Vergiftungserscheinungen wie die arme Portugiesin zugrunde.

Wenn man aber lebende, quellfrische Keime haben will, wenn man sie, wie wir hier, zur Übertragung braucht, dann muß man sich an die frischen Fälle halten und ein solcher war der Junge. Er war müde? Die Oberin klopfte nach der nur zu pünktlich eingehaltenen Frist von zwanzig Minuten an der Tür? Er wollte sich nicht von einer Mücke nach der anderen stechen lassen? Er wollte schlafen, seine Bedürfnisse befriedigen, einen Eisbeutel auf die Stirn bekommen, kühlende Limonade oder Eis zu sich nehmen? Seine Medizin schlucken?

So schlafe, trink und iß, verrichte deine Bedürfnisse, aber nachher! Alles, was du dann willst, aber störe uns nicht!

Ich nahm keine Rücksicht. Walter schüttelte ärgerlich den Kopf. Er gab mir nicht recht. Ich sah es deutlich. Der Generalarzt leistete passiven Widerstand. Der Aufenthalt in der unter dem Dache gelegenen Zelle war schauderhaft. Allen. Ich ruhte aber nicht, bevor ich nicht weniger als zehn junge Mücken an den Brunnen zur Tränke geführt hatte. Wir plagten uns dann noch stundenlang ab, eine von diesen zehn Mücken zum Beißen an Marchs Oberarm zu veranlassen. Keine tat uns den Willen. Aber das war meine geringste Sorge. Hunger war der beste Koch. Und wenn sie sich heute, gesättigt, abweisend verhielten, würden sie, ausgehungert, schon morgen anbeißen.

Ich riet March, Zucker, Obst und dergleichen reichlich zu sich zu nehmen, um sein Blut zu versüßen.


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