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II

Ja, mein Vater hat auf meine Jugend den bestimmenden Einfluß ausgeübt. Mein Leben war die Fortsetzung des Lebens meiner Eltern mit anderen Mitteln. Da sich meine Eltern widersprachen, widersprach ich mir selbst. Meine Mutter ist verhältnismäßig jung gestorben. Ich habe von ihr nur eine gute körperliche Pflege und eben die allgemeinen mütterlichen Liebkosungen geerntet – sie hat mich sprechen gelehrt. Mein Vater hat mich denken gelehrt. Was ich als denkender Mensch bin, im besseren oder schlechteren, das bin ich durch ihn geworden. Es hat lange gedauert, bis ich aus dieser Kindsknechtschaft herauskam. Auch meine Frau übte eine Knechtschaft gegen mich aus – eine Güteknechtschaft, wenn ich so sagen darf.

Ich hatte sie geheiratet, um nicht allein zu sein. Sie sollte nur um mich sein, mir die Illusion der Gemeinschaft geben, aber sie sollte mich nicht beherrschen. Leider hatte sie andere Ansichten über unsere Beziehung. Sie war häßlich, ich sagte es schon, eine helle Brünette, die sich mit Unrecht blond vorkam, schmale Schultern, breite Hüften, ein blattartig flaches, lehmfarbenes Gesicht mit stumpfer Nase, großen Nasenlöchern, in deren behaartes Innere man hineinsehen konnte. Die üblichen Enthaarungsmittel nutzten nichts, verschlimmerten nur diese häßliche Eigenheit. Wenig schön waren ihre spärlichen Zähne, die sie deshalb beim Sprechen und Lachen nicht gern zeigte. Späterhin wurden sie durch ein prachtvoll schönes künstliches Gebiß ersetzt. Denn sie war nicht frei von Eitelkeit und tat mehr zum Verbergen ihrer Häßlichkeit als manche anerkannt schöne Frau zur Erhaltung ihrer Schönheit tut. Ihre Augen waren hellbraun bis hellgrau – eine seltene Färbung, die aber mit den ebenfalls hellen, ziemlich üppigen Augenbrauen harmonierte. Ihre Häßlichkeit hatte mich von Anfang an nicht abgestoßen, sondern neben ihrer guten, gesellschaftlichen Stellung, ihrer positiven Lebensauffassung und ihrer Anspruchslosigkeit eher angezogen, da ich wußte, daß diese Dame mich durch Schönheit und sinnlichen Reiz nie auf Abwege bringen würde. Durch jene Gaben, durch welche die Frauen im allgemeinen Männer meiner Art beeinflussen, würde sie niemals mich zu einer Tat bewogen haben, wie ich sie verübt habe. Aber es gibt andere Verwicklungen, andere Widersprüche.

Mein Vater war mir überlegen gewesen, weil er mir durch seine bloße Existenz schon imponierte. Er hätte auch ohne mein Leben existiert, ich aber nicht ohne das seine. Überlegen war er mir in stärkerem Maße durch seine ungeheure Fähigkeit, Menschen zu nehmen, zu behandeln. Nehmen heißt immer auch lassen, und behandeln ist von mißhandeln niemals weit entfernt. Er war älter als ich. Das war noch kein Grund, zu ihm emporzusehen. Er war aber auch stärker, schöner (Schönheit hat auf mich seit jeher geradezu magisch gewirkt, selbst in den sonderbarsten Erscheinungen und Verkleidungen). Am meisten überlegen war er mir aber – banal, aber wahr – weil ich ihn liebte. Er hat dies alles gefühlt. Denn er verstand sich auf Menschen, vielleicht, weil er während des größten Teiles seines Lebens seelisch von allem und jedem unabhängig war. Später, als er mich brauchte, als er mit ergrauenden, stets gefärbten Haaren, mit bitter werdenden Falten in seinem kleinen, scharf geschnittenen Gesicht, mit immer tieferen und immer mehr deprimierenden Lebenseinsichten rapid vereinsamt wurde, da war er mir mit einem Male fremder als fremd geworden.

Er war gefürchtet im Amt und einflußreich, einflußreicher als der Minister, höflich, reich und geizig, frömmlerisch und Anarchist, Menschenfeind seit seiner verunglückten Expedition, und immer und überall grundsätzlich unaufrichtig – vielleicht sogar manchmal gegen seinen Willen. Er war es müde geworden zu lügen, zu heucheln, zu posieren. Es lohnte ihm nicht mehr. Er hatte alles auf diese Weise Erreichbare erreicht. Aber er mußte bleiben wie er war. Ich fragte ihn nicht mehr um Rat, meine wissenschaftliche Laufbahn verdankte ich nur mir selbst. Geldangelegenheiten wurden ungern direkt zwischen ihm und mir geregelt, sondern in meinen jungen Jahren, als sie wichtig für mich waren, durch seinen Anwalt und durch meinen Vormund. Übrigens war das von meiner Mutter ererbte Vermögen bald nicht mehr der Rede wert.

Er erschien in den Nachkriegs jähren immer wieder bei mir, äußerte in zurückhaltender Form sein Interesse – aber er erhielt nie Einblick in das, was mich entscheidend bewegte. Plötzlich kam er auf den Einfall, seine künstliche, überlang gehegte Jugendmaske fallen zu lassen. Als ich ihn einmal nach einer Ferienreise mit meiner Frau in einer Hafenstadt des Südens wiedersah, trug er schneeweiße Haare. Aber sonderbarerweise sahen diese weißen, leicht gelockten, immer noch reichen Haare aus wie die Perücke aus dem Schaufenster eines Theaterfriseurs, ja, wie das Gesellenstück eines Friseurgehilfen auf einem Haubenstock. Ich lächelte und schwieg. Ich betrachtete ihn wie eine Wachspuppe in einem Jahrmarktsmuseum und wünschte ihm ernsthaft Glück zu seiner letzten Beförderung, die ihn direkt dem Minister unterordnete. So hoch war er bereits gestiegen. Die Minister wechselten und er blieb.

Er hatte meinen Trieb, rücksichtslos und schonungslos ins Innere zu sehen, geweckt, hatte mir als wehrlosem Kind gezeigt, wie man hinter die Dinge und Ideen kommt, wie man Menschen und Tatsachen dirigiert. Er hatte mir seine Erlebnisse auf seiner verunglückten Nordpolfahrt erzählt. Nicht der Unterhaltung wegen. Er hatte mich getroffen, wie ein Torpedo ein Schiff in Fahrt. Ich war mit der Zeit natürlich auch in sein Inneres eingedrungen, denn seine Wurzel war am Ende nicht einfacher und nicht komplizierter als die der meisten Menschen. Er brauchte mir nichts mehr zu sagen. Ich sah ihn ruhig an. Ich sprach über die Ereignisse des Tages, wie sie in den letzten Nummern der Zeitungen geschildert waren, wir stritten nicht, wir waren in allem einig, verlangten nichts von einander, vorbildlicher Vater, vorbildlicher Sohn, wir lächelten beide, schüttelten einander die Hände, luden uns ein zu einem Glase Wein oder dergleichen, ich erkundigte mich, ein nicht vorhandenes Interesse vortäuschend, nach dem Befinden meiner Geschwister, er beantwortete meine Fragen mit einer Handbewegung: auch mir sind sie gleichgültig, aber dann wurde er ernster und fragte, wie ich mein Vermögen angelegt hätte. Als ob er nicht wüßte, daß meiner Frau alles, mir nichts gehörte. Aber darauf antwortete ich nicht, sondern lächelte nur und sagte: »Gewiß gut!« Nichts weiter. Und dabei beschäftigte mich dieser Punkt sehr. Mein Vater und ich waren uns fremd. Mehr als das: er langweilte mich. Ich verstand ihn und er langweilte mich. Was sollte er mir auch erzählen? Seine Rattenballade kannte ich.

Er ödete mich vor allem durch seine Liebe an. Nicht anders als meine Gattin. Nein, doch in einem Punkte anders. Denn ihr tat das Lieben und Nichtgeliebtwerden wie den meisten Frauen, die den Masochismus nie ganz verlieren, wohl. Wenn ich nicht in allem der ideale Mann war, wie sich ihn eine Frau in ihren Jahren vorstellte, so war ich ihr sicherlich wie ein Kind, dessen schmerzhaftes und für die Mutter gefahrbringendes Zurweltkommen es der Dulderin besonders wertvoll macht. Hätte sie nur mit den Beweisen ihrer Zärtlichkeit zurückgehalten! Sie benahm sich mir gegenüber nur zu oft wie eine Gluckhenne, mit viel Wärme im dreckigen Gefieder – oder wie eine idiotische, bäuerische, bigotte Amme – was weiß ich. Zum Unglück hatte sich von ihr mein Vater diese Manier angewöhnt, und es war oft zum Verzweifeln. Hätten sie mir statt Zärtlichkeiten und Liebesbeweisen bares Geld (oder einen Revolver) in die Hand gegeben, alles wäre anders geworden. Aber dazu fühlten sie wohl zu zart. Beide hatten ein bedeutendes Vermögen. Aber sie enthielten es mir vor, vielleicht, um ein letztes Mittel in Reserve zu haben, mich an sie zu ketten. Das hätte ich verstehen können, gewiß. Aber wozu einen wehrlosen (innerlich mit sich selbst zerfallenen) Menschen mit den Beweisen eines Gefühls überschütten, das dieser nicht erwidern will und kann!

Meiner Frau war ich weniger fremd als meinem Vater. Wenn es ihr Spaß machte, zu leiden, so hatte ich gelernt, Spaß darin zu finden, sie leiden zu machen. Darin ergänzten wir uns vortrefflich. Ich studierte mit aller Genauigkeit, wie weit ich gehen durfte, ohne ihre Liebe zu verlieren. Ich ging so weit, als ich es mir ausdenken konnte. Fast bis ans äußerste – immer noch hielt der Faden, wenngleich zum Zerreißen gespannt. Aber bei der letzten Belastung riß er doch. Ich hatte einem Menschen Übermenschliches in »Liebes-Lust und -Leid« zugetraut und mußte es büßen. Denn über die Grenzen der gebrechlichen, menschlichen Natur geht ein Durchschnittslebewesen nie hinaus. Ich hatte also, wenn ich gespielt hatte, zu hoch und zu riskant gesetzt, und wenn ich gerechnet hatte, hatte ich mich verrechnet.

Aber bereute ich deswegen? Nein. Auch die Todesstrafe hätte mich nicht geschreckt. Ich denke an die Zeit der Gerichtsverhandlung. Mich zu strafen war jedes irdische Gericht zu schwach, zu komisch, zu gebrechlich. Da hätte schon Gott oder Satan in eigener Person sich mir offenbaren müssen. Ich gähnte. Wäre es in meiner Macht gelegen, ich hätte mein infernalisches Experiment wiederholt unter anderen Versuchsbedingungen, aber ich hätte diese alte, liebessüchtige Frau, diese künstliche Blondine mit den strahlenden, hellgrauen Augen im platten, emaillierten Gesicht und den blauen Krampfadern an den Beinen doch aus der Welt geschafft und womöglich meinen guten, alten, in Ehren und Würden schlohweiß gewordenen Vater dazu. Es gibt solche Menschen.


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