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XX

Am nächsten Abend erkrankte der Doktor plötzlich an Schüttelfrost. Sein edles, männliches Gesicht schwoll an, die prallen Backen, die aufgeworfenen Lippen, der stechende Glanz seiner tief liegenden Augen verursachten eine Ähnlichkeit mit den Zügen eines Betrunkenen. Kein Mensch aber war bei klarerem Bewußtsein als er. Als ob er am Bette eines Fremden stünde, diktierte er meinem Freunde March seinen eigenen Krankheitsbericht. »C. Datum, Jahreszahl, etc., Dr. Walter, zweiundvierzig Jahre alt, Militärarzt, mittelkräftig, Malaria tropica vor vier Jahren, sonst immer gesund. Impfung durch Stegomyia fasciata B 3 vor vier Tagen, plötzliche Erkrankung an Kältegefühl, Temperatur 39,9, Puls 120, stark gespannt, – – Herztöne?« Er ließ sich aus seinem Zimmer sein Autostethoskop kommen, einen Hörapparat, der an das Herz, oder besser gesagt, an die Brustwand etc. des Kranken angelegt und mittels zweier Gummischläuche mit den Ohren des Untersuchers verbunden wird. So ist man auch imstande, die eigenen Herztöne und die Geräusche der eigenen Lungenatmung so zu vernehmen, als handle es sich um die eines Fremden. Aber wer belauscht sich gerne, außer wenn er muß?

Nun hörte Walter sein Herz pochen, seine Lungen atmen, seine Gedärme revoltieren. Dann legte er das Autostethoskop an seine schmerzende Stirn. Er lächelte; krampfhaft, aber doch. Dann nahm er, während seine Zähne im Fieberfrost klapperten und seine Glieder wie bei einem elektrisierten Frosch auf- und niederzuckten, den Ansatz des Stethoskops wieder aus den Ohren und legte den Apparat in meine Hände zurück. »Die Herztöne sind noch sehr kräftig. Sollte es sich ändern, sehen Sie sich rechtzeitig vor. Geben Sie mir von morgen ab regelmäßig Digitalis und versuchen Sie, die Herzaktion dadurch von hundertzwanzig auf neunzig zu drücken. Ich kenne mein Herz, es hat schon Ärgeres überstanden.«

Er hatte Vertrauen zu seiner guten Natur und zu mir, den er als seinen Arzt betrachtete. Wir wollten ihn sofort aus dem Laboratorium, wo ihn der Schüttelfrost überfallen hatte, in ein Krankenzimmer bringen. Er lehnte es ab und bestand darauf, daß wir vorher noch eine Blutuntersuchung machten. Er war vor Jahren in seinem Militärdienste an tropischer Malaria erkrankt, und diese Möglichkeit wünschte er auszuschließen. Hoffte er doch noch? Wollte er nicht wissen? Wir fragten nicht. Er sprach nicht.

Carolus übernahm diese Untersuchung. Er war ja jetzt Monate lang durch die Schule Walters gegangen und war so perfekt geworden, daß man ihm die relativ einfache Untersuchung des Blutes auf Malariaplasmodien anvertrauen konnte.

Sie war, wie erwartet, von keinem positiven Resultat begleitet.

Wir machten alles so schnell wie möglich ab, Walter verfiel uns zusehends unter den Händen, sein Bewußtsein setzte aus, und March, der immer noch am meisten Privatmensch geblieben war, und der zu Frau Walter eine Art Zuneigung (!) gefaßt haben mußte, drängte uns, die Untersuchungen zu verschieben und so schnell wie nur möglich die Gattin des Erkrankten unten in C. zu verständigen. Carolus und ich waren dagegen. Wir wollten unsere Arbeit vorerst möglichst weit fördern. Wenn es irgend ging, wollten wir alles vorläufig noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit unternehmen. Was war aber einer Frau an unüberlegten Handlungen nicht alles zuzutrauen, die einen Mann wie Walter handgreiflich zu attackieren imstande war? Abgesehen davon wollte ich die Frau Walters nach Kräften schonen, stand sie doch vor der Niederkunft. Das Gelingen unseres letzten Experiments (Walter) war zwar wahrscheinlich, aber noch nicht mit hundert Prozent positiv. Vielleicht konnten wir ihr die Aufregung ersparen, – mit einem Wort, Carolus, der Kaplan und ich verstanden einander, wir waren drei gegen March, wir waren dagegen.

Zu entscheiden hatte die Hauptperson, Walter. Er nickte auf alle Fragen mechanisch mit dem Kopf. Sollen wir Ihre Frau Gemahlin verständigen? Er nickte ja. Oder sollen wir noch warten? Er nickte ebenfalls ja. Es ist vielleicht besser, wenn wir Ihre Gattin angesichts ihres Zustandes schonen? Sicher ist noch nichts, und wäre es auch sicher, so kann es sich und wird es sich hoffentlich, wie oft bei Laboratoriumsexperimenten, bei Ihnen wie bei March und Carolus nur um einen kurzen (!) Anfall handeln, der das zweite Stadium nicht zu passieren braucht (!!). Auch darauf nickte er »ja!« und setzte mit erlöschender, heiserer Stimme, wobei ihm jedes Wort schon starke Schmerzen zu bereiten schien, hinzu: »Ja, es ist schon das beste so.«

Wir, Carolus, March und ich, brachten ihn dann auf der bewußten Tragbahre, auf der March und ich und unzählige andere gelegen hatten, in sein Zimmer und verließen dann in aller Stille auf den Zehenspitzen den Raum, als der Kaplan eintrat, der ihm die Sakramente brachte. Der Doktor nahm sie nicht mehr im Zustand des klaren Bewußtseins entgegen. Der Schüttelfrost, der bei March eine Stunde, bei mir etwas über vier Stunden angehalten hatte, dauerte bei dem armen Menschen acht Stunden ohne eine Unterbrechung. Das war ein unheilverkündendes Zeichen.

Ich gab zwar March keinen Auftrag, ließ es aber zu, daß er die Frau des Doktors um die Mittagszeit des nächsten Tages alarmierte. Ich weiß nicht mehr, was sie verhindert hat, sofort zu erscheinen. Der Direktor des Krankenhauses wollte ja bei ihr (aus Verehrung für ihren heroischen Gatten) auf eigene Gefahr eine Ausnahme machen und ihr sofort den Besuch gestatten, während sonst den Angehörigen der Kranken der Zutritt zu dem pestverseuchten Lazarett streng untersagt war. Die Frau traf aber erst in den späten Nachmittagsstunden des übernächsten Tages ein, unglückseligerweise in einem Augenblick, wo wir darangingen, von dem Blut des Doktor Walter zwei Dutzend Moskitos zu neuen Experimenten ansaugen zu lassen.

Es war notwendig. Wir wollten erfahren, ob das Blut schon nach siebzig Stunden, vom Ausbruch des Y. F. an gerechnet, infektiös sei. Wir benötigten, wenn es so war, die mit krankem Blut getränkten Mücken für weitere Versuche. Wer hätte denn an unserer Stelle jetzt noch haltmachen dürfen? Ich frage dies ganz ruhig. Ich bin der Antwort ganz sicher. Man konnte den Versuch nicht umgehen. Man mußte alles zu erfahren trachten, sonst war die ganze Bemühung vergeblich. Der Doktor merkte nichts von den Stichen. Er war ja nicht mehr er selbst. Er warf sich besinnungslos hin und her, so daß es großer Anstrengung bedurfte, ihn festzuhalten, aber er spürte die Mückenstiche nicht.

Wir hatten ihn, der bei einer Temperatur von einundvierzigeinhalb Grad mit kalten Extremitäten dalag, mit seiner Kamelhaardecke zugedeckt, die ihn auf seinen Feldzügen und seinen Reisen stets begleitet hatte. Ich fühlte unter dem haarigen, schon etwas abgenutzten, nach Leder und Tabak riechenden Gewebe seine dürren Glieder zittern.

Ich seufzte auf, es ermüdete mich, der noch lange nicht seine alten Kräfte wiedergewonnen hatte, sehr, ihn zu halten, der sich immer wieder aufzubäumen versuchte.

Er spürte nichts, wiederhole ich. Und hätte er es auch gespürt, wiederhole ich ebenfalls, was sein mußte, mußte sein.

Aber wie sollte seine Gattin das begreifen, die halb irrsinnig in ihrer gekränkten Liebe und ihrer grenzenlosen Verzweiflung zu uns hereinstürmte! Noch dazu hatte sie sich (schwangere Damen sind oft wie Irrsinnige) von dem kleinen Hund begleiten lassen, den ihr seinerzeit Walter mitgebracht hatte. Man denke, eine verzweifelnde, hochschwangere Frau, ein blödsinnig bellender, uns allen feindselig gesinnter Hund im heißen, engen Krankenzimmer, das eher einer Zelle glich.

Die Frau hielt sich, vor Schrecken und Abwehr stumm, die Nase zu. Der Geruch der Krankheit war ja schauerlich. Der Hals der schönen, von Verzweiflung und Ekel geschüttelten Frau war, wie oft bei gesegneten Müttern, stark geschwollen. Es hatte sich eine Art Kropf gebildet, der stürmisch auf und ab wogte. Auch der Hund war wie von Sinnen. Das Biest sprang dem kranken Herrn auf den Leib, aus Freude oder Haß wegen früherer, schmerzhafter Hundeexperimente oder aus sonst einer Regung, – und gerade in der Oberbauchgegend war es, wo der arme Bursche jetzt im Augenblick die schwersten Schmerzen zu empfinden schien. Aber das kümmerte den Hund und die Frau nicht im mindesten. Sie stieß um sich, sie warf sich über ihn, sie weinte und schluchzte, sie bejammerte sein Los und das ihre. Ihre bevorstehende Entbindung mache ihr Sorgen »flüsterte« sie ihm so laut zu, daß wir alle es hörten, das Kind liege schlecht, es sei wie ein Stein, sie werde daran sicherlich sterben, er werde seine Härte noch bereuen, er solle sich doch besinnen, aufstehen, uns fortjagen und mit ihr kommen.

Uns mit unseren Moskitos und unseren Reagenzgläsern, mit unserer ganzen, mühselig ausgeklügelten, technisch durchdachten Apparatur eines schwierigen Experiments stieß sie von dem Gatten fort – oder besser gesagt, sie wollte es tun. Meine Aufgabe war es, sie zu verhindern, sich an dem Plan zu vergreifen. Ich konnte mich am leichtesten freimachen. Carolus hielt dem Doktor die Moskitos an die Haut, damit sie anbissen, March unterstützte ihn, wenn einer frei war, dann war ich es. Fort mit der Dame. Um der Sache und um ihretwillen.

Sie mußte weichen. Ich führte sie mit sanfter Gewalt fort, ich nahm sie beim Wort: um ihres ungeborenen Kindes willen möge sie sich schonen und jede Aufregung vermeiden. Sie sah mich zornglühend an – und schwieg plötzlich. Was sollte sie tun? Sie gab nach.

Die Untersuchung konnte fortgesetzt werden, wie sie fortgesetzt werden mußte. Carolus machte seine Sache gut.

Aber der Querkopf March, dieser sentimentale Narr, richtete er sich nicht plötzlich auf und sagte uns seinen Dienst auf? Wollte der Dame nacheilen, die hinter der schnell versperrten Türe uns von neuem ihre alten Verzweiflungsgesänge in die ohnehin gemarterten Ohren (ich war überempfindlich) Und in die Seelen (ich war ja auch nur ein Mensch!) gellte?! Ich beherrschte mich. Kein scharfer Ausdruck. Keine Gewalt. Ich winkte ihm ab und übernahm seine Aufgabe zu der meinen dazu. Er schob ab. Ich hörte ihn hinter der Türe die Dame endgültig beruhigen und sich dann mit ihr entfernen.

Unsere Sache dauerte lange. Ich habe schon berichtet, daß sich der Kranke auf die Belästigung durch die experimentellen Mückenstiche während einiger Stunden einrichten muß. Es ist ja an sich nur eine Kleinigkeit. Während dieser langen Zeit kam Walter freilich mehr als einmal zu einer Art lichten Momentes: »Wo bin ich? Wer sind Sie?« röchelte er heiser hervor. »Wasser! Durst! Eis!«

Die Schwestern beeilten sich natürlich, ihm das Gewünschte zu bringen. Aber bevor sie noch an seinem Bette, bevor sie mit dem Löffel an seinem geschwollenen Munde waren, war er wieder tief bewußtlos. Seine schönen, energischen, sehnigen Hände hatten unmerklich damit begonnen »Flocken zu lesen«, und die Fäden aus der Kamelhaardecke herauszupflücken.

Ich habe dann, als ich wieder zwischen meinen vier Wänden im Kellerraum war, die Büschelchen an meinem Laboratoriumskittel gefunden und mit einem seltsamen Gefühl, das man besser nicht beschreibt, entfernt.

Endlich schien das letzte Insekt anbeißen zu wollen. Es hockte bucklig da, silbrige Fleckchen an seinem dunklen Leib.

Der Doktor stöhnte herzzerreißend und wies mit seinem freien linken Arm nach seinem Kopf. Der Eisbeutel schien ihn zu sehr zu drücken und Carolus, vergessend, daß man immer nur eine Sache auf einmal verrichten kann, nahm diesen fort. Zum Unglück ließ er dabei die Öffnung des Reagenzgläschens sich von der Haut trennen, die niederträchtige, bereits stark angesogene Mücke entfloh und war nicht mehr einzufangen. Sie steckte offenbar im Dunkeln in einem Winkel des Zimmers.

Der Doktor murmelte wieder allerhand, anscheinend war er in Gedanken dabei, einen Brief an seine Gattin zu schreiben, er malte Buchstaben auf die Decke und sagte sich dabei, mühsam die Worte zusammensuchend, den Text vor: »Freue Dich, Liebste«, (es war, als ob er dabei schmunzelte, ein Gesichtsausdruck, der sonst sehr selten bei ihm war) »unsere Leistung wird als die größte ...« Was die Leistung sein sollte, wurde nicht offenbar. Er röchelte bloß, würgte, hustete, atmete tief ein, schlug plötzlich die Augen auf, sah uns alle der Reihe nach an, besonders lange March, der eben durch die Tür hereintrat. Er wandte sich direkt an ihn und fragte, mühsam die Worte artikulierend: »Haben Sie gute Nachrichten von meiner Frau? Ich bin eben etwas erkrankt. Sie soll bleiben, wo sie ist. Rio de Janeiro, Montebello-Hotel. Sagen Sie ihr, sie soll mir verzeihen! Das Kind wird doch richtig liegen, denn alle ihre Geburten waren leicht, Gott sei Dank! Und Sie müssen wissen, seit zwanzig Jahren war es mein Gebet ... Bitte, nehmen Sie aber jetzt den Eisbeutel von meinem Kopf!« (Es war keiner dort.) »Horch, dort marschieren vierundzwanzig Trompeter zum Abschiedsfeste für das alte Jahr.« Auch der Zusammenhang dieser Worte war nicht klar. Wie wenig kannten wir ihn bei aller unserer Liebe!

»Was wollen Sie uns noch sagen, liebster Dr. Walter«, fragte ich, denn ich sah, seine Stunden waren gezählt.

»Ihnen? Nichts. Aber wissen Sie«, wandte er sich nochmals an March, der Tränen vergoß wie ein Kind, »ich hinterlasse meiner Frau und meinen Kindern so wenig ... wenn Sie wüßten, wie wenig. Aber es ist schon das Beste so. Eis, bitte etwas Eis! Ich habe Durst.«

Wir gaben es ihm und verließen das Zimmer, um die Moskitos ins Dunkle zu stellen.


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