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XVIII

Wir hatten unser Lager Camp Walter genannt und dachten oft an Walter, ohne von ihm zu sprechen. Der nächste Versuch wurde mit den zwei Matrosen vorgenommen, zu denen sich als dritter noch einer von ihren Kameraden gesellt hatte. Zwei von ihnen wurden in dem Haus a untergebracht, das durch ein ganz feingeflochtenes Drahtnetz in zwei Hälften geteilt worden war. Der andere bewohnte das Haus b allein. Beide Häuschen hatte man umgebaut. Wir hatten eine Türe an der Nordseite durchbrechen lassen, so daß das Haus zwei Türen hatte. Die frische Luft konnte nun ungehindert durchziehen, da beide Türen nur durch mückensichere Netze aus Draht verschlossen wurden. Die Versuchsanordnung war so, daß der Matrose X um zwölf Uhr mittags, frisch gebadet, so gesund wie es das Klima nur zugelassen hatte, mit einem tadellos desinfizierten Nachthemd bekleidet, seine Zelle, wenn ich so sagen darf, bezog. Fünf Minuten vor Zwölf hatten wir in dem Raum dieser Zelle einen Glasbehälter geöffnet, der fünfzehn Moskitoweibchen enthielt, die infektiöses Blut getrunken hatten.

X erhielt im Verlauf der ersten Viertelstunde einen Stich von einem der Moskitoweibchen, die anderen hatten sich in dunkle Winkel verkrochen. Sobald es Abend wurde, gingen sie an ihr Werk, und man konnte bis neun Uhr abends fünfzehn bis siebzehn Stiche zählen. Sein Nachbar zur Linken, der Matrose Y, (Kontrolle!) war ebenso tadellos gesund, trug ein ebenfalls desinfiziertes Nachthemd, kam ebenso sauber aus dem Bade, nur konnten in seine Zelle die Moskitoweibchen keinen Einlaß finden, infolge des dichtmaschigen Drahtnetzes. In dem Häuschen b wurde der Matrose Z allein untergebracht. Auch er zog zu gleicher Zeit ein, wurde aber während einiger Tage unbehelligt gelassen.

Wir hatten zu diesem Experiment den mutigsten und sittlich gefestigtsten Mann von den dreien ausgesucht, der sich seinen Humor unter keinen Umständen rauben ließ. Wir wollten ihn erst dann infizieren, als das Y. F. bei dem Manne X eingesetzt hatte. Also fünf Tage nach der eben beschriebenen Versuchsanleitung.

Z blieb inzwischen kerngesund, hatte aber leider die Lust an dem langweiligen Aufenthalt (er blieb ja ganz isoliert) verloren, hielt alles mit einemmal für unnütze, mordlustige Spielereien, ödete uns durch Klagen und Beschwerden an und verlangte, zu der Batterie zurückgeschickt zu werden. Wir hatten uns in seinem Charakter getäuscht. Er war zwar ein Ehrenmann, ein prachtvoller Bursche, sehr lustig und witzig, kannte die besten Kartenkunststücke und sprach drei Sprachen, wir konnten ihm aber das Wichtigste, Geduld, nicht angewöhnen und waren dennoch außerstande, ihm seinen Willen zu tun. Er hatte geglaubt, für seine Generosität, mit der er uns seine Gesundheit und sein Leben zur Verfügung gestellt hatte, eine besondere Rücksicht zu verdienen. Aber für uns war die Vergangenheit und Gegenwart, alles drum und dran dieser Menschen völlig gleichgültig und alles mußte uns selbstverständlich Jacke wie Hose sein, solange der Versuch nicht beendigt war. Er, Z, mußte sich fügen.

Die Verwaltung des Sträflingscamp hatte uns Wachen gestellt, so wie sie uns Bauarbeiter und andere Handwerksleute zugewiesen hatte. Wir bedurften auch sonst einer Menge Bedienungspersonal, denn es war kein Tropfen Wasser in unserem Camp. Die gesunden Experimentalobjekte mußten ernährt, ihre Wäsche gereinigt werden, sie mußten ihr Essen erhalten, ihre Körperpflege war peinlichst einzuhalten. Die kranken Experimentalobjekte mußten gepflegt werden, und zwar nicht um ein Jota schlechter hier in dem primitiven Häuschen ohne alle ärztlichen Hilfsmittel, als oben in dem gut eingerichteten Klosterlazarett über der Stadt C. Man kann sich eine Vorstellung von der wirklich unabsehbaren Arbeit machen, die Carolus und ich uns auf die Schultern geladen hatten, wenn ich sage, daß wir beide mit fünf Stunden Schlaf auszukommen hatten, wobei dieser Schlaf durch die ärztlichen Hilfeleistungen etc. bei den erkrankten Männern oft genug unterbrochen wurde. Carolus war an Y. F. nie erkrankt. Aber wenn der alte Mann, von Rheuma, Verdauungsträgheit und den Gefäßbeschwerden seiner Jahre geplagt, sich einer solchen Anstrengung freiwillig aussetzte, wenn er unter meinen Augen sichtlich verfiel und das bißchen Farbe wieder verlor, das er in dem Intervall zwischen den Experimenten gewonnen hatte, – da mußte ich ihm alles abbitten, was ich von ihm Herabwürdigendes gesagt habe. Du hast geirrt, mußte ich mir sagen. Vergiß und lerne in deinen alten Tagen, Georg Letham.

Ich begann während dieser kritischen Tage in ihm einen Vater zu sehen. Er sah in mir den Sohn, er trug mir das Du an und, ohne daß ich ihn darum bat, änderte er seine unappetitlichen Lebensgewohnheiten, sehr zu meiner Freude, denn wir bewohnten gemeinsam ein Zelt. Hätte ich ihm nur angewöhnen können, die Zigarette am Mundende statt am entgegengesetzten anzufassen, eine Teetasse beim Henkel zu nehmen, den Löffel aus der Tasse zu nehmen und sich noch ein paar Male öfter die Hände zu waschen und den Vollbart zu kämmen, so wäre alles eitel Freude und Herrlichkeit gewesen. Aber wenn das alle meine Sorgen waren!

Nicht von mir sei jetzt die Rede, sondern von den Experimentalobjekten. X wurde schwerkrank, überstand aber die Krise nach fast drei Wochen ununterbrochenen, schauerlichen Fiebers und wurde wieder gesund.

Jetzt noch das Wichtigste. Einen Menschen anstecken, aber durch Serum verhüten, daß er überhaupt erkrankt.

Zu diesem Versuche mußten wir den widerspenstigen Mann Z verwenden. Er hatte das furchtbare Leiden seiner Kameraden gesehen. Er hatte sich durch Augenschein selbst überzeugt, daß er bloß dadurch der Erkrankung entgangen war, daß er durch moskitosichere Wände von den Blutsaugern geschieden gewesen. Und jetzt kamen wir mit diesen Insekten direkt an und muteten ihm zu, seinen Oberarm hinzuhalten. Carolus verdoppelte seine Prämie. Der Mann, Z, der im Grunde edler Regungen fähig war, wies diesen Vorschlag wutentbrannt zurück. Dabei war dieser Versuch so notwendig wie die anderen. Alle zusammen waren nur Fundamente.

Ich, als der bürgerlich deklassierte Mensch, hielt mich wie gewöhnlich so sehr zurück, wie nur irgend möglich. Als ich aber meinen lieben Carolus im Begriffe sah, mit langer Nase (im wahrsten Sinne des Wortes) abzuziehen, entschloß ich mich zu einem Schritt, der manchem sehr sonderbar erscheinen wird. Ich setzte mich zu dem ungebärdigen, aufs äußerste erbitterten jungen Menschen, sagte ihm offen, wer ich sei, erklärte ihm, was wir wollten und versprach ihm, daß er überhaupt nicht erkranken würde. Und der Mann Z fragte nicht, ob ich auch imstande sein würde, dieses Versprechen beim besten Willen zu halten. Er vertraute sich mir an, wie sich so viel Menschen vor ihm (und glücklicherweise auch nach ihm) sich mir anvertraut hatten.

Ist nicht Vertrauen die Grundlage der Welt? Er spie zwar wütend aus, stieß mich mit den Knien und nannte mich einen abgefeimten Verbrecher und rohen Schinder; langte aber währenddessen seinen Oberarm hin und hielt sich mit seiner rechten Hand die linke fest, damit er nicht zusammenzucke und das Experiment störe, und als die erste Mücke (wir nahmen sicherheitshalber drei) angebissen hatte, begann er zu lachen und war von diesem Augenblick an wieder der alte. Er ließ sich ruhig die Injektion mit dem Blute des leichenblassen, vor Schwäche fast heulenden Mannes X verabreichen – und blieb gesund.

Gift gegen Gift ergibt Gegengift. Hosiannah! Nichts Besseres konnte uns allen begegnen.

Carolus bekam in dieser Zeit zahlreiche Briefe und Depeschen von den Seinen. Sie hatten die Dauer seiner Abwesenheit auf drei Monate berechnet, jetzt betrug sie schon über das Doppelte und noch war keine Ende abzusehen. Er war ein alter Mann, siebenundsechzig. Er hing an seiner Tochter, an seinem Schwiegersohn, an seinem einzigen Enkelkind. Er hing an seinem schönen, soliden Haus, an seinen Freunden daheim, an seiner Schachpartie und an seinem Bankkonto, an seiner Kakteensammlung, an seiner Ehre und Würde. Jeder Tag hier – doch wozu davon reden, wenn er selbst es nicht tat? Wir waren mit dem ganzen Herzen bei unseren XYZ. Eines Tages aber durchbrach er unseren ungeschriebenen Pakt, jetzt nichts Persönliches hineinzubringen, und teilte mir, vor Freude mit dem Kopf wackelnd wie eine alte, gute Henne mit, daß wir begnadigt seien. Wir, das heißt March und ich, Soliman (†) und der vierte. Zum Lohn für unseren Opfermut (und dank der Bemühungen meines einflußreichen Vaters?) wurden wir begnadigt. March, als ein Verbrecher aus Affekt, durfte in die Heimat zurück, ich als der schwerere blieb deportiert, ebenso der vierte. Nur von der Zwangsarbeit war ich befreit, und es waren Schritte im Gange, mir die Ausübung meines Berufes in C. zu ermöglichen. Ich fragte nicht nach March. – »Wollen Sie Ihrem Vater nicht danken? Willst du ihm«, verbesserte sich Carolus, »nicht schreiben?« »Lieber Carolus«, sagte ich, »was soll ich tun? Ich habe vergessen, wie mein Vater aussieht.«


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