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Viertes Kapitel

I

Was mochte mein hübscher Gefährte sein? Vielleicht war er ein Mensch aus gehobenen Schichten. Ich faßte am nächsten Morgen beim Erwachen nach seiner Hand. Sehr im Gegensatz zu dem knochigen, rassigen Gesicht hatte sie etwas Schlaffes, Weichliches, aber man mochte sie doch gern anfassen. Wenn man über die innere Handfläche strich, war es, als ob man über die von der Frühlingssonne erwärmte, trockene Schädeldecke eines Neugeborenen striche, unter der es pulst, wo die Knochen noch weich waren, gummiartig, nicht ganz endgültig ineinandergefügt.

Es bereitete Vergnügen, die innere Handfläche des Schlafenden kitzelnd mit dem Zeigefinger zu berühren, ohne daß der Schläfer davon wußte. Aber der Junge schlief gar nicht, er hatte gesehen, was ich getan hatte, oder ich hatte es nicht spontan getan, und ihm war es gelungen, mich zu einer Liebkosung zu verführen.

Er nannte mir seinen Namen, March, und ich sagte ihm den meinen.

An der Decke unseres Käfigs entlang zogen sich dicke, eiserne Heizschlangen, wie sie die Dampfheizungen in den Korridoren der Kellerräume haben. Dampfheizungen in dem Laderaum eines Schiffes, das in die Tropen ging? Wo schon jetzt in den Morgenstunden die Temperatur eines Dampfbades herrschte? Wenn sich das Auge an das Halblicht gewöhnt hatte, sah man, daß diese Dampfleitungen offen mündeten. Waren sie vielleicht an die Kessel der Maschine angeschlossen und sollten im kritischen Moment kochendheiße Dämpfe ausströmen lassen, um uns zur Räson zu bringen? Disziplin oder Verbrühen, das war die Wahl. Es war keine Wahl. Wir wollten alle wohlgesittet sein und bleiben.

March blickte mich an, aber er hielt sich von Liebkosungen zurück. Er zog den Grammophonkasten hervor, musterte die Platten, krampfhaft liebkoste er die eine, die in der Mitte durchgebrochen war, fuhr mit seinem scharfen Fingernagel den mikroskopisch feinen Rillen nach. Die anderen warfen begehrliche, geradezu feurige Blicke auf das abgenützte kleine Spielzeug. Niemand hatte etwas Ähnliches in seinem Besitz.

Ihm war es wertvoller als Geld. Ich sollte bald erfahren, was es ihm bedeutete.

Jetzt ließ er mich nur eine Inschrift lesen, oder besser gesagt, zwei Unterschriften, je eine auf einem abgebrochenen Teil der Platte eingeritzt. Louis und Lilly. Es waren ähnliche Schriften, steil, regelmäßig, vielleicht von Bruder und Schwester.

Inzwischen war im Raum III die Arbeit verteilt worden. Einige Leute hatten in der Küche zu helfen, andere mußten während der »Luftrunde«, das heißt während der halbstündigen Spaziergänge an Deck unten die verlassenen Räume von allem Schmutz reinigen. Von den Vorrichtungen zum Waschen, bei deren Gebrauch man beinahe schmutziger wurde statt sauberer, spreche ich nicht. Es wasche sich erst mal einer unter einer Dusche von Seewasser – und schildere das Ergebnis! Aber auch diese primitivsten Vorrichtungen, wie sie in dieser Art etwa zu Zeiten des seligen Columbus zur Körperpflege seiner wasserscheuen Bemannung ausgereicht haben mögen, mußten in Ordnung gehalten werden.

Die Tröge für Trinkwasser mußten innen ausgerieben werden mit Blechspänen und Meerwasser. Beides zusammen erzeugte eine fressende Säure, und die Hände der mit diesem Reinigungswerk betrauten Sträflinge waren in kurzer Zeit zu jeder Arbeit unfähig oder doch nur fähig unter erbärmlichen Schmerzen. Das war meine Aufgabe.

Ich wollte lachen, aber es ertönte nur ein falsches Lachen, das heißt Gekrächz. Diese Arbeit verbitterte mich zu sehr! Die anderen sahen mir höhnisch zu und lachten »echt«.

Erst am dritten Tage trat ich zu der Luftrunde an. Wie ein Geschlagener schleppte ich mich in der Reihe dahin.

Das Meer schäumte. Die Offiziere lagen rauchend, trinkend, Karten spielend unter rotweiß gestreiften Sommerdächern. Der Generalarzt Carolus war nicht zu sehen. Über unseren Schädeln war nur ein Dach: die wehende Rauchfahne des schwer gegen die Wellen arbeitenden Schiffes und der gute, erbarmungsreiche, blaugoldene, unermeßliche Himmel mit seiner schon fast tropischen Glut. Die Holzpantinen der Sträflinge klapperten im Takt auf den Bohlen des Schiffes. Der Boden war schlüpfrig. Weshalb? Viele waren seekrank, wußten die Wohltat der frischen Luft nicht zu schätzen. Ich stolperte über das nasse Zeug und hielt mich mit meiner wunden Hand an der meines Gefährten an. Er erwiderte meinen Druck. Meinen Druck?

Mein Gesicht war aus Stein.

Ich hatte das Alter meines Kameraden überschätzt, ich hatte ihn für weit über die Mitte der Dreißig gehalten, er war aber erst am Ende der Zwanzig. Wie er seine Neigung zu mir verstand, sollte ich an einem der nächsten Tage erkennen.

Ich war sehr gedrückt, litt außerordentlich unter körperlichen Beschwerden, es juckte mich bis aufs Blut. Ich hatte erwartet, daß man mich zur Pflege der Kranken ins Schiffslazarett beordern würde, dort wäre ein leichteres Leben, nahm ich an; ich hatte geglaubt, Carolus würde ein menschliches Fühlen seinem ehemaligen Laboratoriumsgenossen gegenüber empfinden.

Ich hatte mich, wie es schien, getäuscht. Die Tage vergingen, und nichts änderte sich. Aber ich sprach nicht.

Schweigen ist der stärkste Magnet. Nie hat der Zurückhaltende, der Schweigende eine Abweisung zu fürchten. Er ist sicher. Er hat es gut oder immer doch noch besser als der, den es zur Aussprache treibt.

Mein hübscher Gefährte war einer von denen, die sprechen müssen. Auf dem Hafenplatz hatte er sich noch zurückzuhalten vermocht. Wir waren über zwölf Stunden aneinandergebunden gewesen, und doch hatte er kein Wort an mich gerichtet. Jetzt verbanden uns keine Fesseln, und doch ahnte ich bald, wie er hieher gekommen war. Dieses Verbrechen mußte eine Beziehung zu seinen Gefühlen mir gegenüber haben.

March wollte, ich nicht. Es war so leicht, ihn abzuschrecken, ein kalter Blick, das war schon genug. Als er zum zweitenmal zum Beichten ansetzte, sprach ich von meiner Hand, die nun schon ein schmerzhaftes Ekzem von dem Hantieren mit Blechspänen und Meerwasser aufwies. Dazu war der Schorf von dem rechten Handgelenk abgegangen, an jener Stelle, wo mich beim Besteigen der Schiffsstrickleiter die Handfessel wundgedrückt hatte. Aber wäre es nur dies allein gewesen! Mein ganzer Körper brannte, als trüge ich das Brennesselhemd aus dem Kindermärchen. Hatte ich also genug? Sicherlich. Aber was tat ich? Ich schloß die Augen und gähnte laut.

Der gute March hing mit saugenden Blicken an mir. Glaubte er vielleicht, daß er an mein Mitleid, an mein warmes Mitgefühl appellieren konnte? Mitnichten. Nichts isoliert mehr als Leiden. Er konnte es mir nicht abnehmen. Ich schwieg auf seine Fragen, ich lag mit dem Bauch auf der Pritsche, ich rollte mich herum, ich konnte nicht mehr Ruhe finden. Von Schlafen keine Spur.

Durch das runde Glas der Luke drang nachts der Schein des Mondes zu mir. Die Petroleumlampe schaukelte und stank. Die Sträflinge schliefen fast alle nicht, bloß wenige dösten dahin. Einer kraulte dem anderen den Kopf wie ein Affe. Andere spielten Karten, viele erzählten Geschichten, aber immer blieb eine Gruppe für sich, es gab plötzlich Schlägereien, Boxkämpfe mitten in der Nacht, fast ohne Wortwechsel, bloß Schlagwechsel, blutige Duelle von unvorstellbarer Roheit. Ein Meister der Tätowierkunst bot sich den verehrten Herren an, vertrat die schönen Künste, verlangte aber Summen dafür, die nicht von jedem gezahlt werden konnten. Aber das ersehnteste Objekt war (nach den Lederschuhen und der Flanellweste, die ihren Weg auf das Schiff gefunden haben mußten), Marchs altes Kindergrammophon. Wunderdinge stellten sich die Herren unter der Musik dieses Kinderleierkastens vor. Himmelsklänge erwarteten sie von den zerkratzten, alten Platten – und March hätte verlangen können, was er wollte, ihm würde man es gegeben haben. Aber er tat es nicht. Was war ihm Hab und Gut? Er dachte nicht daran. Er lebte nur seinem Gefühl.

Und der Beweis seiner Neigung zu mir? Ein Kuß? Ein warmer Händedruck? Eine Liebeserklärung, ein gefühlvoller Sermon, ein Versprechen ewiger Freundschaft, Blutsbrüderschaft bis zur gemeinsamen Flucht aus C. nach Brasilien? Liebevollste Pflege, wenn mich das Gelbfieber anstecken sollte? Nein! Etwas viel Größeres und viel weniger Großartiges. Man errät es aber nicht, wenn ich es nicht erzähle.

Fast alle hatten drei oder vier Garnituren Wäsche bei sich. Sauber war nach der langen Eisenbahnreise nur das geblieben, was in der Tiefe des Sackes ruhte. Aber was dann, wenn einer nichts darin hatte als zwei Büchlein von höchstem kulturellen Wert, aber ohne Gebrauchswert – Hamlet und Evangelium –, was dann, wenn er sich auf die Vorsehung der löblichen Behörden verlassen hatte, was sein leibliches und unterleibliches Wohl anlangte? Wenn er auf das Kommen eines lieben Herzensbruders gerechnet hatte, damit dieser ihm außer erschütternden Abschiedsworten noch einige saubere Unterhosen und Unterhemden spätestens nach der Verschiffungsstation, nach der Hafenstadt brächte? Ja? Nein? Nein!! Dann hatte er sich eben stupid verrechnet, und der Idiot mit der schlechten Rechnung war ich, eben meines Vaters Sohn, der sich jetzt nur des Besitzes einer einzigen gesunden Unterhose und zweier, aber nicht sehr sauberer Hemden rühmen konnte. Wer ein Mann war, versuchte sich zu helfen. Mensch und Schicksal waren eines, eine schmutzige Hose sollte kein Felsen sein, woran ein furchtloser Experimentator zerschellte. Zeit war genug, was soll er tun? Er gehe zur Wasserquelle und wasche trotz seiner wunden Hände die Wäsche im reichlich strömenden Naß. Ja, das wäre ein guter Rat gewesen! Hätte doch erst einer versuchen sollen, den Rat zu befolgen.

Ich tat es ja in der zweiten Nacht schon. Und was kam heraus? Ja, zuerst war freilich ein Teil des Schmutzes aus der Wäsche gekommen, da ich blödsinnigerweise mit meiner kostbaren, vorläufig unersetzlichen Seife nicht gespart hatte. Aber weder die Reste der Seife waren herausgekommen, als ich mit dem Waschen meiner Dessous fertig gewesen war, noch weniger leider die Reste des Meerwassers. Und nun trockne man dieses alles eher als blütenweiße Linnen an einer Schnur, die man zwischen den Rahmen zweier Luken ausspannt oder, noch besser, an den Eisenbohlen sinnreich befestigt. Am nächsten Morgen ziehe man das Hemdchen und Höschen über und schwitze fest darin. Und eine Viertelstunde später befindet man sich in der Hölle. Aber nein, lieber Georg Letham, nur keine großen Worte, es ist ja nur eine leichte Krankheit, genannt der rote Hund, prickly heat. Was sagt der Arzt, Dr. Georg Letham, der jüngere? Er tritt zu Dr. Georg Letham, dem jüngeren, läßt sich die Leidensgeschichte erzählen, betrachtet den Kerl von Kopf bis Fuß und sagt:

»Der rote Hund ist eine Krankheit, mit der zur heißen Jahreszeit fast jeder Neuankömmling der Tropen – meist schon während der Seereise – Bekanntschaft macht. Es handelt sich um eine durch starkes Schwitzen und dadurch entstehende zu starke Hautfeuchtigkeit verursachte heftige Entzündung. Oft reizt auch das gewählte Material der Unterkleidung und manchmal auch die schlechte Entfernung der Seife aus dieser beim Waschen. An denjenigen Körperteilen, an denen die Kleider am dichtesten anliegen und scheuern, also zunächst an der Hüftgegend und den Vorderarmen, später auch an den Schultern und der Brust, Rücken und Hals bilden sich kleinste, dicht nebeneinander auftretende, leicht über die Haut hervorragende Knötchen. Sie jucken äußerst heftig und beeinträchtigen infolgedessen das Allgemeinbefinden im höchsten Grade, besonders der nächtliche Juckreiz kann starke Schlaflosigkeit verursachen...«

Starke Schlaflosigkeit? Gibt es auch schwache, Herr Doktor Letham?

»...Durch das beständige Kratzen wird meistens die Entzündung noch gesteigert, es wird bis aufs Blut gekratzt, und dadurch entstehen leicht weitere Entzündungen, Infektionen mit Eitererregern und Furunkel bis zur Ekzembildung.«

Brennheißen Dank, verehrter Arzt und Helfer der Menschheit! Wo wären wir ohne dich, Mann des Geistes und Herr des medizinischen Wissens? Was rätst du uns? Einpudern? Woher den Puder nehmen? Häufige Waschungen mit reinem, nicht salzhaltigem Wasser? Woher das reine Wasser nehmen? Auch Alkoholumschläge sollen trefflich sein, aber hier im Raum III Alkohol zu Umschlägen verwenden, welch groteske Phantasie!

Oh, ihr liebenden Herzen, jetzt lache ich nicht über euch! Ich gähne nicht. March hat alles, was ich brauche, und er gibt es mit Wonne.

Er hatte längst erfaßt, an welchem Leiden ich krankte, er hatte Puder, er hatte reines Wasser, denn seinen Süßwasservorrat, der uns täglich nach der Luftrunde literweise in unseren Feldflaschen zugeteilt wurde, hatte er aufgespart. Er hatte selbst stark unter dem Durst gelitten, und mehr als einmal war seine Zunge, lang und schmal und purpurfarben wie die eines Hundes, über die ausgedörrten Lippen gestrichen.

Er war eines Opfers fähig, sein Ideal war ihm etwas wert. Aber erwartete er einen Lohn dafür? War er imstande, einem Ideal zu dienen ohne Gegenwert?

Was soll man da lange fragen? Muß man da nicht dankbar sein? Es hilft, ja! Es tut gut, ja! Es ist eine Wohl-Tat. Tauschen wir die Rollen. Sei du der Arzt und ich der Patient. Auf jeden Fall schlief ich in dieser Nacht gut und tief, sehr tief.


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