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XII

Einer so hoffnungslos klaren Sachlage durch Leugnen begegnen zu wollen war von vornherein unmöglich. Eher konnte es als eine aussichtsvolle Methode erscheinen, über diese psychologisch zu begreifende Tat hinaus sich den untersuchenden Richtern als eine ganz entmenschte, pathologische Persönlichkeit zu präsentieren, die in einem Anfall entfesselter Raserei diese Tat begangen hatte und die deshalb – und hier ist das Ende dieser nur scheinbar gangbaren Methode – zwar nicht auf das Schafott, noch auch in das Zuchthaus oder die Kolonien auf Lebenszeit, aber doch dauernd hinter Schloß und Riegel gehöre. Vielen würde sicherlich die Aussicht auf lebenslängliche Internierung in einer geschlossenen Anstalt als das leichtere Los erscheinen im Vergleich zur Todesstrafe oder zur Deportation. Mir aber nicht.

Ich habe einige Wochen in der psychiatrischen Beobachtungsstelle der Krankenabteilung des Untersuchungsgefängnisses ausgehalten. Mein Vater hatte es mit Hilfe meines Anwalts durchgesetzt, daß man meinen Geisteszustand von Gerichts wegen untersuche. Ich habe Verhöre auf Verhöre von Ärzten über mich ergehen lassen, stundenlange Intelligenzprüfungen, die mich als Idioten erscheinen ließen, ich habe, in der ohne Aufhören sicht-, hör- und fühlbaren Nähe von wirklich Geisteskranken und Rasenden, Tobenden, Schreienden, Heulenden, Lallenden, sich selbst zerfleischenden und unratfressenden Menschen, ich habe in der Nähe von unheilbar geistig und seelisch Erkrankten mit aller gesammelten Kraft und Energie zu simulieren versucht. Aber ich habe nicht lange genug ausgehalten und ich sage: von hundert Männern sind neunzig nicht imstande, und hinge selbst ihr Leben daran, über einen gewissen Zeitpunkt hinaus eine schwere Geisteskrankheit zu simulieren, ohne ihr zu verfallen.

Für mich war das Weltgebäude niemals auf ganz unerschütterlicher Grundlage gebaut. Ich habe bereits gesagt, daß ich schon in meiner Jugend unter dem Einfluß meines Vaters Anarchist und Atheist und Negativist bis zum Zyniker geworden war dazu noch der innere Druck (nennt es Gewissen, tut, was ihr wollt, ihr faßt es doch nicht), dazu der Mangel an Schlaf, dazu das ununterbrochen Beobachtetwerden, die wie mit einem scharfen Meißel in die Seele eines labilen Menschen hineingetriebenen stereotypen Fragen der Herren Gerichtspsychiater, wobei der Teil »Gerichts« Hauptbetonung hat, – dazu die schlechte Kost, der Schmutz, dieser um so ärger, je mehr man selbst in eigener Person dem Zerstörungsdrang nachgibt und alles Demolierbare in seiner Zelle demoliert (welchen Menschen lockt es nicht ab und zu, alles ringsum kurz und klein zu schlagen!)

Einer, der es nicht erlebt hat, kann sich das grenzenlos ermüdende und entnervende des dauernd Sichselbstgegenübersitzens nicht vorstellen, diese Nächte, diese Träume, und nur die feindliche Atmosphäre um sich – ja, Georg Letham, der jüngere, hast du denn eine Ferienreise an die See erwartet?

Einerlei, es kommt der Tag, wo man im Widerstand nachläßt und sich ergibt. Ich sehnte mich wie ein Wahnsinniger danach, wieder vernünftig zu sprechen, normal zu essen, und es war höchste Zeit. Ich war zum Skelett abgemagert, und meine geistige Kraft war erschöpft. Meine harten Knochen drohten, die kümmerliche, dürre, trockene Haut auf meinem Kreuz und unter den Schulterblättern wund zu liegen.

Das Fürchterlichste war, daß ich einmal in einer Nacht gegen Morgengrauen begriff, daß ich keine Hoffnung auf Hoffnung mehr hatte. Und keine »Hoffnung auf Hoffnung« hatte ich nicht erst seit dieser regnerischen Nacht. Es war gegen Morgen, zu einer Stunde, da die wirklich geisteskranken Verbrecher und die Simulanten gleicherweise entweder durch natürliche Müdigkeit oder durch die Wirkung der Schlafmittel (meist Skopolamin in mächtigen Dosen) sich beruhigt haben und schlafen. Bloß bei mir hielt das Schlafmittel nie bis zum Frühstück (oder was man so nannte – ein Teller Suppe und ein Stück Brot, kein Löffel, keine messerartigen Eßinstrumente) durch. Nie konnte ich bis sechs Uhr durchschlafen. Es verwirren sich die Gedanken zwischen den Worten, das Denken wird ein träges Durcheinander, kaum zu schildern.

In dieser Nacht hatte ich, um die Haut auf dem Rücken zu schonen, mich auf den Bauch gelegt – mag sein, daß der Blutumlauf in dieser unnatürlichen Stellung besonders stark auf den Herzmuskel drückte, auf der Lungenschlagader lastete – ich weiß nicht, wie es kam, ich mußte heraus, ich ertrug mich nicht länger, ich meldete, schwer die richtigen Worte findend, meine »Gesundung« dem alarmierten Oberwärter, ich wollte den Arzt, den Untersuchungsrichter, meinen Vater, meinen Anwalt, was weiß ich, wen noch alles mitten in der Nacht kommen lassen, aber die Hausordnung hat hier ihre unumstößlichen Gesetze, man vertröstete mich – und ich war: ein geständiger Verbrecher und allein.

Nun beruhigte ich mich aber nicht, ich konnte es nicht, in mir war alles mögliche, das sich in Worte schwer fassen läßt, aufgespeichert, es trieb mich dazu, meine Hoffnungslosigkeit auszutoben, nutzlos, jetzt, sage ich, jetzt tausendmal nutzloser als je im Leben! Ich schrie, bis ich heiser war und rein physisch nicht mehr schreien, nur krächzen konnte; nur echte Tobsuchtskranke hatten das Geheimnis weg, ganze Nächte hindurch ohne Heiserkeit brüllen zu können, ich, der ich eben noch eingestanden hatte, zu simulieren, zerstörte alles, was ich fassen konnte. Es war nicht viel. Bloß meine Decken, wollene, nicht zu dünne Decken mußten daran glauben, ich biß hinein, ich riß mit meinen dazumal noch kerngesunden Zähnen Stücke heraus, es meldeten sich die niedrigen körperlichen Bedürfnisse – und ich – ich will es nicht aussprechen, ebensowenig, wie ich den Augenblick meiner Tat nicht ausdrücklich, nicht ausführlich bis jetzt habe schildern können, ich will nur andeuten, daß ich an diesem Morgen alle die viehischen Abscheulichkeiten beging, die ich als junger Student in dem Kolleg über Geisteskrankheiten bei Paralytikern gesehen hatte. An anderen – und nun sah ich sie, erlebte ich sie an mir selbst! Wie sich der Rest meines noch klaren Bewußtseins gegen dieses tierische Rasen und Toben auflehnte, das läßt sich in einfacher Sprache kaum schildern, kaum begreiflich machen. Wer das erlebt hat, steht einer schnellen, einer abkürzenden Strafe wie der Todesstrafe nicht mehr so schaudernd gegenüber.

Es sind diese furchtbare Nacht und dieser Morgen eine weitere Lektion in dem Abhärtungsprozeß gewesen, den mein Vater vor zwanzig und mehr Jahren begonnen hatte. Und alles ging nur zwischen mir und mir vor. Für das Personal, das dort wie in allen ähnlichen Anstalten riesig überlastet und abgestumpft zynisch geworden und verroht ist (und wohl auch so sein muß), war mein Fall eindeutig. Ich hatte mich ja vorher als geistesgesund gemeldet! Ich interessierte nicht mehr.

Ich (wie so manche andere vor mir) hatte zermürbt und zerbrochen den Hungerstreik aufgegeben, ich wurde daher von der Liste derer gestrichen, die mit der Gummisonde ernährt wurden. Ich hatte vernünftig gesprochen, und man mußte mir abends keine Skopolamindosis mehr einspritzen. Wenn ich jetzt tobte, war das mein Privatvergnügen. Ich erregte nicht um eine Spur tieferes Interesse als ein Hund in seinem Käfig in meinem Laboratorium, wenn er sich zwischen seinen Eisengittern wahnsinnig heulend um sich selbst dreht und (nachdem das Experiment vorbei ist) sich den Verband von seiner Wunde abreißt. So kehrt alles wieder in diesem kurzen Leben! Was würde erst in einer Ewigkeit wiederkehren!

Ich hatte meinen Vater benachrichtigen lassen. Er war es gewesen, der mir zwar nicht höchstpersönlich, aber durch meinen Verteidiger hatte nahelegen lassen, mich als geisteskrank hinzustellen. Er hatte in der Zwischenzeit um seine Pensionierung angesucht, das Gesuch schwebte noch, er sollte aber unentbehrlich, unersetzlich sein. Jetzt hatte er sich von aller Welt zurückgezogen (wurde aber trotzdem von den neuigkeits- und sensationslüsternen Zeitungen dauernd, ohne Ruhepause, belästigt). Vielleicht verbrachte er in seinen mit Kunstschätzen und naturhistorischen Kostbarkeiten vollgestopften Zimmern ebenso schlaflose, qualvolle Nächte wie ich. Mag alles sein, mag sein, daß er sich, in seiner Gesundheit erschüttert, ein alter, gebrochener Mann, nicht mehr die Kraft zutraute, mich zu sehen. Er kam nicht.

Mein älterer Bruder kam (offenbar hätte mein Vater ihm jetzt erst die Erlaubnis erteilt, denn welches Hindernis hätte er haben können, mich nicht schon längst aufzusuchen?) Er erschrak zu Tode, als er mich am Morgen nach meiner »Gesundung« hier sah, fast völlig nackt, beschmiert mit dem eigenen Unrat, zum Skelett abgemagert. Er bewirkte, daß man mich in eine andere Zelle transportierte, er setzte es mit außerordentlicher Energie durch (Energie, das einzige, was er von unserem Vater geerbt hatte – und doch war es nicht die gleiche unerbittliche Willenskraft) daß man ihn bei mir ließ, Tag und Nacht, bis ich ein menschenähnliches Aussehen und Einsehen wieder gewonnen hatte.

Wir sind uns vorher nie nahegestanden. Er war ein normales Subjekt, einer, von dem zwölf und ein halb auf ein Dutzend gehen, hier aber wog er ganz allein die ganze menschliche Gesellschaft für mich auf.

Zum erstenmal seit Jahren habe ich mit einem Menschen stundenlange Gespräche geführt – nein, es war etwas anderes als »Gespräche«, es waren Seelenverbindungen, Seelenwirkungen mit den Mitteln des Wortes und der menschlichen Nähe an sich. Wenn ich überhaupt wieder irgendwie lebensfähig wurde, verdanke ich es ihm. Zu seiner Ehre sei es gesagt, zur Ehre der Menschen überhaupt.


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