Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Skopas und Lysipp

Wie neben Phidias Myron, so steht neben Praxiteles Skopas. Er ist Praxiteles ebenso verwandt wie entgegengesetzt. Auch seine Kunst ist ein Letztes, im doppelten Sinne. Aber während sich bei Praxiteles alles in silberne Harmonie auflöste, war die Domäne des Skopas das aufwühlende Pathos, die flammende Ekstase und die starke wilde Dissonanz. Es sind die beiden Formen der schöpferischen décadence. Seine Kunst war dionysisch, der schäumende Extrakt des Chaos, keine sanfte praxitelische Euphorie, sondern zuckender Todeskampf. Etwas besser als über die Gestalt des Skopas, die für uns nicht viel mehr ist als ein schwarzer, zitternder Schatten, sind wir über Lysipp unterrichtet. Er stammte aus Sikyon, das, vier Stunden von Korinth gelegen, lange Zeit der Sitz einer Kunstschule war, wie im neunzehnten Jahrhundert München, Düsseldorf, Darmstadt; etwas genial Lehrhaftes war dem Œuvre Lysipps auch immer eigentümlich, und er wurde wie der Sikyonier Polyklet der Schöpfer eines Kanons, der länger als ein Jahrhundert für klassisch galt. Er wirkte während der ganzen zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, erreichte ein hohes Alter und hat Alexander schon in dessen Kinderzeit porträtiert, der sich in Bronze, die das bevorzugte Material des Meisters war, von niemand anderem abbilden ließ. Sein berühmtestes Bildnis des Königs, der Alexander mit der Lanze, zeigte diesen mit Stiernacken, Löwenmähne und lebensvoll geöffnetem Mund, den Blick in weite Fernen gerichtet, und auch alle seine übrigen Alexanderstatuen sollen einen schwärmerischen Zug zum Ausdruck gebracht haben. Das muß nicht bloß lysippisch, es wird auch alexandrisch gewesen sein. Alle griechischen Künstler waren sehr fleißig, aber Lysipp war der produktivste von allen: Er soll fünfzehnhundert Werke geschaffen haben. Von diesen sind aber nur einige in Kopien auf die Nachwelt gelangt, die zum Teil ganz minderwertig sind; zum Teil ist auch ihre lysippische Herkunft umstritten. Am charakteristischsten für sein 954 Schaffen ist der Apoxyomenos, der mit dem polykletischen Schaber offenbar in bewußte Konkurrenz tritt. Diesen kennen wir nicht; aber schon ein Vergleich mit dem Doryphoros genügt, um den Gegensatz und Fortschritt ins Auge springen zu lassen. Bei Polyklet ist alles wuchtig, eckig, scharf umrissen, bei Lysipp alles elastisch, rund, in weichem Flusse, dort alles schwer und gedrungen, hier alles schwebend und gestreckt. Es gehen im lysippischen Kanon mehr Kopflängen auf den Körper, weil der Kopf merklich kleiner und die Beine bedeutend länger sind. Und diese Beine sind nicht mehr auf die an sich schon geniale Formel von Standbein und Spielbein gebracht, sondern scheinen sich in höchster Lebendigkeit federnd zu wiegen. Der Doryphoros ist statisch und mit Reliefblick, der Apoxyomenos dynamisch und mit Tiefenblick gesehen, denn er streckt den rechten Arm in voller Länge dem Beschauer entgegen. Wir sagten, der Standpunkt Polyklets sei parmenideisch gewesen: alle Bewegung nur Schein; gerade diesen Schein wollte aber Lysipp in seiner fliehenden Einmaligkeit aus dem Erz zaubern; das ist aristippisch gedacht: Nur der Augenblick hat recht.


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