Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Polis

Indes war selbst die spätere extreme Demokratie (denn die Kleisthenische war noch eine sehr bürgerliche) von der Oligarchie, der Tyrannis und allen anderen griechischen Regierungsformen nur dem Grade nach, nicht im Prinzip verschieden, denn allemal handelte es sich um eine Polis, jene Grundform, in der allein der Grieche sich ein Staatswesen vorzustellen vermochte. Eine solche Polis entsteht immer durch Synoikismos, Zusammensiedelung bisheriger Dorfgemeinden. Eine Mauer und eine Burg gehören nicht notwendig zum Begriff der Stadt. Sparta war ein Komplex von Dörfern, die ein offenes Feldlager bildeten, und doch im höchsten Sinne Polis. Hingegen besitzt jede Stadt ein Prytaneion oder Gemeindehaus, ein Buleuterion oder Rathaus, einen Marktplatz und in späterer Zeit auch ein Theater und ein Gymnasion. Es liegt im Wesen des Stadtstaats, daß er in bestimmte Raumgrenzen gebannt ist. Er muß einen gewissen Minimalumfang besitzen, darf aber andererseits eine gewisse Größe nicht überschreiten. Eine Polis von zehn Bürgern, sagt Aristoteles, ist ebenso undenkbar wie eine von hunderttausend. Ist sie zu klein, so vermag sie sich nicht zu behaupten; ist sie zu groß, so hört sie auf, eine Polis zu sein. Sie muß wohlüberschaubar (εὐσύντοπος τος) sein und alle Bürger sollen sich untereinander kennen.

Die Grundeigenschaften, die von einer Polis verlangt werden, sind Eleutherie (Unabhängigkeit), Autonomie (Selbstverwaltung) und Autarkie (Selbstversorgung); diese aber als bloße Idealforderung, denn schon früh waren die größeren Städte auf Einfuhr angewiesen. In dieser ihrer Abgeschlossenheit und 694 Selbstherrlichkeit nun ist die Polis für den Bürger ein und alles. Πολιτεύεσϑαι bedeutet »an den Staatsgeschäften teilnehmen, die bürgerlichen Rechte ausüben«, aber auch einfach »leben«, denn ein Leben außerhalb der Polis war undenkbar. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Griechen das erste Volk der Weltgeschichte waren, das ein wirkliches Staatsleben entwickelt hat, und das Wort »Politik«, das in alle modernen Kultursprachen übergegangen ist, leitet sich ja auch von Polis her. Aber von Polis kommt auch Polizei. Die Bürger sind die Zellen, die Polis ist der Organismus, daher, obgleich aus ihnen bestehend, mehr als sie. In ihr allein erfüllt sich der Sinn jedes Daseins, vollendet sich jeglicher menschliche Wert. Sie ist die Trägerin aller Kultur, aller Ethik, sogar aller Religion. Und über das alles hinaus war sie auch noch eine künstlerische Schöpfung; Nomos bedeutet sowohl Gesetz wie Melodie; das ist etwas, das wir heute kaum mehr nachzuempfinden vermögen. Der griechische Patriotismus war so stark, daß er sogar den Boden überwand: die Polis ist transportabel; wo die Gemeinschaft der Bürger sich niederläßt, ersteht sie neu, denn sie ist eine überzeitliche und überörtliche Idee. Daher die Leichtigkeit, mit der der Grieche auswanderte. Sein Begriff der »Heimat« war ganz unromantisch.

Auch den modernen Begriff des »Landes« als eines gleichwertigen Gegensatzes zur Stadt kannte er nicht; das Land ist politisch so gut wie nicht existent, die Dörfer oder Komen haben nur in untergeordneten lokalen Fragen ein Selbstbestimmungsrecht, der Bürger heißt Städter, polites. Politik gibt es eben nur in der Stadt. Und der Feind, echthros, bedeutet ursprünglich nur den »Auswärtigen« (das Wort hängt mit »ek« zusammen), denn einer, der nicht zur Stadt gehört, ist eben schon dadurch ein Feind. Andrerseits bezeichnet das Wort xeinos sowohl den Fremden wie den Gastfreund. Ihn schützt Zeus Xenios, Gewalttat an ihm ist Frevel gegen die Götter, selbst der Bettler gilt 695 als »von Zeus gesandt«. Dies hat den Hellenen das historische Prädikat ganz besonderer Gastfreundlichkeit verschafft. Es verhielt sich aber so, daß sie diese Eigenschaft einfach haben mußten, weil sonst das Leben schlechterdings unerträglich gewesen wäre. Denn es gab nicht nur kein Völkerrecht und keinen internationalen Fremdenschutz, sondern auch keine Restaurants und Hotels.


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