Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Euripides

In Euripides erscheinen sämtliche Tendenzen des Zeitalters aufs eindrucksvollste zusammengefaßt. Er war ein halbes Menschenalter jünger als Sophokles und starb etwa ein Jahr vor diesem, der ihre Rivalität so vornehm empfand, daß er bei der Todesnachricht Trauerkleider anlegte. Sein Bühnendebut fiel ins Todesjahr des Aischylos, worin eine gewisse Symbolik liegt. Er errang nur viermal oder fünfmal den Preis, muß aber schon bei seinen Lebzeiten der populärste der drei Tragiker gewesen sein. Als bei der sizilischen Katastrophe zahlreiche Athener in Gefangenschaft gerieten, sollen einige von ihnen dadurch die Freiheit erlangt haben, daß sie euripideische Dramen auswendig wußten. Erhalten sind achtzehn ganze Stücke und zahlreiche Bruchstücke, also weit mehr als von irgendeinem andern Dichter, fast ein Viertel der Gesamtproduktion. Am größten muß Euripides als Komponist gewesen sein. Er unternahm es, die Melodie mit dem Gedanken enger zu vermählen, die alten Rhythmen aufzulösen, die Tonarten kühner zu wechseln und durch stärkere Modulation und Untermalung neuartige Effekte zu erzielen. Die Angriffe der Komödie richteten sich hauptsächlich gegen seine moderne Musik mit ihren Schnörkeln und Trillern, Rouladen und Kadenzen. Seine Arien, Duette und Chöre gelangten auch als selbständige Solonummern zum Vortrag, was bei Aischylos und Sophokles nicht der Fall war. Auch Programmusik müssen die damaligen Tondichter schon gekannt haben: Sie malten Donner, Tierstimmen, Brausen des Flusses und »Ameisengewimmel«, das Kopfweh verursachte. Man warf ihnen vor, daß ihre Kunst hohl und effekthascherisch, spitzfindig und überladen, kakophon und falsch pathetisch sei: lauter Dinge, die jeder neuen Musik nachgesagt werden. Es wurde vorhin bei den drei Tragikern an Shakespeare, Schiller und Ibsen erinnert; zutreffender ist es aber vielleicht, wenn man Oratorium und Oper zum Vergleich heranzieht und bei Aischylos an Bach, bei Sophokles an Gluck und bei 883 Euripides an Wagner denkt. Es findet sich bei Euripides und Wagner dieselbe »Freigeisterei der Leidenschaft«, dieselbe Psychologisierung der Götterwelt, dieselbe Durchdringung mit Philosophie und dieselbe Vielfarbigkeit einer ganz neuen Palette. Auch die euripideische Tonkunst galt als Kunstverfall und Geschmacksverderbnis und man vermißte an ihr das Ethos, während man sie später gerade wegen ihres hohen ethischen Gehalts rühmte. Ferner läßt sich bei Euripides auch schon eine größere Rücksicht auf das Bühnenbild erkennen: der Schluß der Troerinnen mit dem Brande Ilions zum Beispiel ist ganz szenisch; man darf dabei aber gleichwohl nur an so etwas wie die Zauberwirkungen eines vormärzlichen Vorstadttheaters denken. Er appelliert überhaupt viel mehr an Zauber, Wunder und Gespenster als der gläubige Sophokles, aber aus Romantik und Theatralik; es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Okkultismus des Rationalisten Ibsen.

Mit Euripides wird das griechische Theater »interessant«. Vor allem ist er der Entdecker der Frauenseele und des erotischen Dramas (die erste antike Liebestragödie war die verlorene Phaidra des Sophokles, aber die muß man sich wohl ganz anders denken). Aischylos sagt in den Fröschen voll Stolz zu Euripides: »Niemand kann sagen, daß ich je die Gestalt eines liebenden Weibes schuf.« Kein Wunder, denn er lebte ja noch in der päderastischen Gefühlswelt der guten alten Zeit. Aber ganz unberechtigt ist, wenn man sich auf den hellenischen Standpunkt stellt, der aristophanische Vorwurf nicht: Es war bei aller Vertiefung der Problematik und Verfeinerung der Mittel ein gewisses Herabsteigen von »der Menschheit großen Gegenständen«. Im Perseus der Andromeda hat Euripides auch die Figur des galanten Retters und Ritters in die Weltliteratur eingeführt. Aber Liebesleidenschaft bei Männern wagte auch er noch nicht zu schildern: Vielmehr sind sie alle merkwürdig kühl und die umworbene Partei, bis herab zu Hippolytos, bei dem die 884 Frigidität des Sportsmenschen als sehr fein beobachtetes Motiv hinzutritt. Auch sonst sind seine Helden gern passiv, ja oft überhaupt keine Helden mehr, sondern zum Typus erhöhte Alltagsmenschen wie bei Ibsen. So hat zum Beispiel Jason in seiner feigen Fassadenmoralität und egoistischen Verständnislosigkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit Helmer im Puppenheim, der Menelaus im Orest ist, als dunkler Ehrenmann voll falscher Hintergedanken, der aber die Onkeldehors wahrt, eine Art Konsul Bernick, die Phaidra eine Studie über Hysterie, die an Ellida Wangel erinnert, und die Figur der Medea, die der Dichter mit so sicherem Griff geprägt hat, daß kein Späterer mehr etwas Wesentliches an ihr zu ändern vermochte, hat in ihrer finstern und verwirrenden Abgründigkeit, die doch immer menschlich begreiflich bleibt, etwas von der Hedda Gabler. Aber ganz wie bei Ibsen haben auch die trivialsten euripideischen Gestalten einen Ewigkeitszug: sie sind Dutzendwesen und doch nicht gewöhnlich, gleich den Schöpfungen der Natur: den Blumen, Bäumen, Muscheln, Käfern, die, obgleich Fabrikware, doch alle von Poesie umwittert sind. Wieso das gelingt, ist eben das Geheimnis der großen Dichter.

Eine Spezialität des Euripides sind auch seine Ehrenrettungen: Klytaimnestra als brave Hausfrau, Helena als treue Gattin. Das ist ein sophistisches Element: die schwächere Sache zur stärkeren machen. Befremdlicherweise erscheint aber Helena dann im Orest wiederum als durchtriebene herzlose Kokette. Euripides hat auch zwei Phaidren geschaffen, von ganz verschiedenem Charakter, die er gleichsam zur Auswahl vorlegte. Auch Sophokles hat es nicht anders gehalten: Odyß ist im »Aias« ein Gentleman, im Philoktet ein Lump, Kreon in König Ödipus ein Biedermann, in der Antigone ein Tyrann und diese selber ist als Titelheldin eine ganz andere Figur als in Ödipus auf Kolonos. Der Charakter braucht nicht festzustehen, denn er lebt ja nur ein Augenblicksdasein. Die Phaidren müssen sich 885 so wenig gleichen wie die verschiedenen Aphroditen, die ein bildender Künstler schafft. Man vergleiche damit die Hilde Wangel in der Frau vom Meere und im Baumeister Solneß: sie ist nicht nur genau dieselbe Figur, sondern auch genau um soviel Jahre seelisch älter geworden, als zwischen der Abfassung der beiden Dichtungen verflossen sind. Aber da die Gestalten der griechischen Tragödie innerhalb des Dramas keine Entwicklung haben, so können sie auch keine außerhalb des Dramas haben.

Was den deus ex machina anlangt, der Euripides immer wieder angekreidet wurde (er kommt übrigens auch bei Sophokles im Philoktet vor und bei Homer ist er geradezu ein ständiges Requisit), so ist er nicht etwa eine Folge technischer Leichtfertigkeit oder Unbeholfenheit, sondern im Gegenteil der Ausdruck höchster Souveränität, indem der Dichter den Theaterapparat so überlegen meistert, daß er ihn verachtet. Hierin erinnert Euripides an Shaw, dessen Stücke sich ebenfalls über dramaturgische Forderungen oft lächelnd hinwegsetzen und daher anfangs mit plumpen Melodramen verwechselt wurden. Aber hierin liegt auch eine gewisse Frivolität, und ebenso verhält es sich mit der Behandlung des Mythos. Er war von der Tragödie unabtrennbar, aber da Euripides ihn bereits mit den Augen der Aufklärung sieht, so verbürgerlicht er ihn. Man stelle sich vor, daß Ibsen nur biblische Geschichten und Heiligenlegenden als Sujets zur Verfügung gehabt hätte. Die Religiosität zersetzt sich in Philosophie. Die euripideische Mythologie verhält sich zur Sophistik ähnlich wie die wagnerische zum Darwinismus: diese Götter haben alle Protagoras gelesen. Bei Euripides gibt es nur noch Menschen. Daher sein tiefer Pessimismus. Daher aber auch seine Wärme und Nähe. In seinen Gestalten sind die aufwühlendsten Probleme seines Herzens und seines Zeitalters Fleisch und Blut geworden, und darum offenbar nannte Aristoteles diesen vergrübelten Epigonen, dem die Götter weder 886 die eherne Wucht eines Aischylos noch den silbernen Glanz eines Sophokles verliehen hatten, τραγικώτατος, den tragischsten von allen.


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