Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Nilschwelle

139 Die alljährliche Nilschwelle wird nur zum geringsten Teil dem Weißen Nil verdankt, obgleich er dem regenreichen Seengebiet Äquatorialafrikas entströmt; vielmehr ist ihre Hauptursache die Schneeschmelze in den abessinischen Bergen, die, vereint mit starken Niederschlägen, im Frühling den Blauen Nil hoch ansteigen läßt. Auch der Atbara, der vom Hochsommer bis zum Frühjahr völlig trocken liegt, füllt sich dann mit wildem Gewässer. Die Folge davon ist, daß ganz Ägypten in einen See verwandelt wird. Ein weitverzweigtes System von Kanälen und Reservoirs sorgt dafür, daß die Überschwemmung geregelt verläuft und ihre kostbare Last an fetter schwarzer Schlammerde auf die Felder absetzt. Derzeit beträgt die Jahresdifferenz zwischen dem höchsten und dem tiefsten Stand des Nils bei Assuan sieben Meter, bei Kairo fünf Meter. Doch sind dies nur Durchschnittszahlen, denn es gab zu allen Zeiten fette und magere Jahre, höhere und geringere Flut: ihrer genauen Feststellung dienten von alters her die Nilmesser, die auch die Grundlage für die Besteuerung bildeten. Steigt das Wasser nicht hoch genug, so vermag es die Kanäle nicht zu füllen, die zur Bewässerung der höher gelegenen Äcker angelegt sind; aber auch eine Wasserführung, die die Norm überschreitet, bringt Schaden. Gewisse Felder vermag die Flut überhaupt nicht zu erreichen, und zu deren Berieselung benutzt der ägyptische Bauer eine Art Ziehbrunnen, heute wie vor sechstausend Jahren: den Schaduf, mit dem er das Wasser hinaufhebt; eine harte und eintönige Arbeit. So ist der Nil, der höchste Segen des Landes, auch dessen höchste Sorge, die schon in frühesten Zeiten zur organisatorischen Zusammenfassung der Volkskräfte geführt hat. Die Bestellung der Felder, die Anlage der Deiche, die Bedienung der Schöpfwerke war eine Art Arbeitsdienstpflicht, zu der man ausgehoben wurde wie zum Militär.


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