Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Homers Komposition

Wer Ilias und Odyssee unbefangen, also nicht philologisch liest, wird sofort bemerken, daß sie komponiert sind. Der Gedanke, sowohl das Jahrzehnt der Belagerung wie das der 641 Irrfahrt derart dramatisch zu komprimieren und um einen Mittelpunkt zu gruppieren: das eine Mal um den Zorn des Achill, das andere Mal um die Erzählung des Odyß, kann nur von einem großen Künstler, ja Artisten stammen. Man muß sogar sagen, daß es sehr wenige erzählende Dichtungen gibt, die eine so straffe und einheitliche Gliederung besitzen: in den großen modernen Romanen ist sie nirgends erreicht (und wahrscheinlich auch gar nicht gewollt, denn die christliche Kunstform ist, wie gesagt, eine andere als die hellenische); jedenfalls ließe sich bei Goethe und Gottfried Keller die »Liedertheorie« (oder vielmehr in diesem Fall die »Novellentheorie«) leichter durchführen als bei Homer. Selbstverständlich ist aber damit nicht gesagt, daß die gesamte Versmasse der beiden Epen von ihm herrührt. Ganz im Gegenteil: nicht nur die vielen stehenden Formeln, die sicher schon vor ihm Tradition waren, sondern auch zahlreiche Motive, Episoden, Schmuckstücke, Porträts, ja ganze große Gemäldepartien wird er einfach übernommen haben. Er verfuhr auch darin wie ein großer Bildhauer, der nicht alles selber macht, sondern viele Figuren, Gruppen, Embleme für sein Kolossalwerk von anderen ausführen läßt. Und überhaupt liegt es im Wesen gerade der fruchtbarsten Dichter, daß sie ganz unbedenklich fremdes Gut verwerten: Darin waren sich Shakespeare und Calderon, Molière und Nestroy ganz ähnlich. Skrupelhaftigkeit im Ausbeuten überlieferter Stoffe und Formen ist später Literaturintellektualismus, handwerksfremder Halbdilettantismus, Anämie des Talents: das vollblütige Genie ist, im sicheren Bewußtsein, daß alles sein Eigentum ist, von hemmungsloser Gefräßigkeit. Hieraus erklärt es sich sehr einfach, warum bei Homer vieles »nicht stimmt«. Für ihn war das Ganze eine prachtvolle Theaterdekoration, die er virtuos arrangierte, aber nicht immer mit eigenen Versatzstücken; kein Wunder, daß sie bisweilen aus dem Stil fallen oder die Perspektive stören.

642 Gleichwohl merkt man die Hand des Regisseurs nirgends. Und selbst dies hat man als Argument gegen die Existenz Homers zu benützen versucht, statt es als höchste Manifestation seines Dichtertums zu werten. Er verschwindet völlig hinter seinem Werk und lebt dabei doch in jedem kleinsten Teil, wie die Seele im Körper, wie Gott in der Welt: allgegenwärtig, aber unsichtbar. Es verhält sich mit Shakespeare nicht anders: von seinem Wesen gilt, was er vom Geist im Hamlet sagen läßt: »S'ist hier«, »S'ist dort«, »S'ist fort«. Die beiden größten Dichter der Welt sind im doppelten Sinne anonym. Menschen, die sozusagen nur das Eßbare im All als existent zu erkennen vermögen, schließen daraus, daß Gott und die Seele, das Werk Shakespeares und Homers Atomkomplexe sind.

Die Odyssee ist viel verwickelter und raffinierter gebaut als die Ilias: diese ist eine farbige Chronik, jene geradezu ein Intrigenroman. Daß der Dichter einen Teil der Abenteuer, aber nur einen Teil, von Odysseus selber erzählen läßt, ist ein so gewandter und reizvoller Kunstgriff, daß er seither von zahllosen Erzählern kopiert worden ist, weswegen wir die Genialität der ersten Erfindung nicht mehr spüren. Auf die Vorgänge der Ilias bezieht sich die Odyssee fast nie; es ist, als ob gar nicht vor Troja gekämpft worden wäre, und doch ist Odysseus einer der Haupthelden des Krieges. Auch sind die Menschen der Odyssee in mancher Hinsicht anders: gesitteter, aber auch sentimentaler. Es weht um sie eine höfische Luft, während es den Heroen der Ilias an höherem Feingefühl oft mangelt. Auch diese weinen häufig und heftig, aber mehr wie leidenschaftliche Kinder; in dem jüngeren Schwesterepos hingegen wird in Tränen geschwelgt, fast schon wie in den Weltschmerzdichtungen der Neuzeit. Aber aus alledem den Schluß zu ziehen, daß die Odyssee unmöglich von Homer sein könne, ist wiederum ein ganz kunstfremder Gedankengang. Daß die gesamte Handlung der Ilias nicht vorkommt, ist offenbar künstlerische 643 Absicht: Der Dichter wollte sich nicht wiederholen. Und daß er verschlungener komponiert, humanere und empfindsamere Gestalten schafft, erklärt sich ganz zwanglos aus dem vorgerückten Alter des Meisters: Er ist reifer und milder, aber auch etwas wehleidiger geworden. Man braucht auch hier wieder nur moderne Dichtungen zum Vergleich heranzuziehen: den gesellschaftlichen Takt des Tasso wird man im Götz ebenso vergeblich suchen wie die großartigen Roheiten der Räuber im Wallenstein. Man hat sogar lange Zeit die Ilias für ein Fragment gehalten, weil sie »plötzlich abbricht«. In der Tat werden die beiden wichtigsten Ereignisse: der Tod Achills und die Zerstörung Trojas, nicht mehr gezeigt. Man brauchte aber nicht mehr zu wissen, als gerade dies, um zu erkennen, daß die Hand eines der größten Dichter der Erde den Sang vom Zorn des Peliden gestaltet hat. Wie der greise Priamos und der junge Achilleus einander bewundernd betrachten, beide von der Strahlenkrone unvergänglichen Heroentums umflossen, und dieser Tränen vergießt – denn er gedenkt seines alten Vaters, der auch des Sohnes beraubt ist, schon jetzt, da der Todgeweihte noch lebt – und dann die Leiche Hektors freigibt: das ist die höchste Verklärung adeligen Menschentums und frommer Heldengröße, deren die Antike fähig war, und man müßte, wenn dies nicht eine allzu ungriechische Vorstellung wäre, erwarten, daß sich nun der Himmel öffne. Kein anderer Dichter hätte hier geendigt. In der Ursage warf Achill den Leichnam des Feindes zerstückelt vor die Hunde. Von wem anders könnte dieser Schlußakkord sein als von Homer?


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