Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Das griechische Theater

Obgleich außer dem Parthenon noch das Erechtheion, die Propyläen und andere großartige Bauten in Angriff genommen wurden, hat man doch damals noch nicht daran gedacht, ein steinernes Theater zu errichten, sondern begnügte sich mit improvisierten Holzgerüsten. Die Hauptaufführungen waren im Frühling an den »großen Dionysien«: drei Spieltage zu je vier Stücken, und zur Zeit der höchsten Machtentfaltung Athens 825 mögen sich dabei wohl an die dreißigtausend Menschen eingefunden haben. Daß die Tribünen einstürzten, wird wohl mehr als einmal vorgekommen sein; aber auch auf den Steinstufen der späteren Zuschauerräume saß man sehr unbequem, und dazu von früh bis abend und ohne die Möglichkeit, die Plätze zu verlassen, um sich zu erholen oder eine Erfrischung einzunehmen; auch muß es um diese Jahreszeit schon recht heiß gewesen sein. Der Grieche ertrug dies mit dem heitern Gleichmut des Südländers, und Frauen und Kinder, die darin vielleicht empfindlicher gewesen wären, waren ohnehin nicht zugelassen. Hingegen war die Akustik, wovon man sich noch jetzt überzeugen kann, auf allen Plätzen ausgezeichnet. Man könnte noch heute auf diesen antiken Bühnen spielen: in Timgad, dem »algerischen Pompeji«, veranstalten von Zeit zu Zeit erste Pariser Truppen Theatervorstellungen, zu denen das Publikum in Schlafwagenzügen befördert wird. Das Bühnenbild aber kann schon wegen der Tagesbeleuchtung keine Illusionswirkung angestrebt haben. Man begnügte sich mit Andeutungen: einige Säulen mit Gebälk stellten einen Palast vor, einige Bäume einen Gebirgswald, einige Zelte ein ganzes Heerlager. Erst mit der vollen Ausbildung der Landschaftsmalerei und der perspektivischen Malerei hat sich unser modernes Ausstattungswesen entwickelt. Agatharchos, der um die Mitte des fünften Jahrhunderts zum erstenmal so etwas wie Perspektivik versuchte, hieß denn auch der »Skenograph«. Aber das waren sicher nur sehr bescheidene Ansätze. Mehr als ein gemalter Hintergrund und die »Periakten«, eine Art drehbare Kulissen, standen nicht zur Verfügung. Die Handlung spielte zunächst immer im Freien; sollte das Innere des Hauses gezeigt werden, so wurde dieses auf einem Wagen, dem Ekkyklema, durch den Hintergrund, der sich teilte, hereingerollt. Das ist im Grunde noch das Prinzip der »Röntgenbilder«, das wir im vorigen Bande bei den Ägyptern kennengelernt haben: die Fassade wird einfach 826 durchsichtig. Auch die Flugmaschine für den deus ex machina, die Versenkung für die Geister der Abgeschiedenen (die Stiege des Charon) und die Apparate zum Blitzen und Donnern muß man sich sehr primitiv vorstellen: Alle diese Einrichtungen standen kaum auf einem höheren Niveau als an unseren Schmierenbühnen. Geradezu komisch hätte auf uns auch die äußere Erscheinung der Darsteller gewirkt: der Kothurn mit seinen dicken Einlagen, die jeden natürlichen Schritt unmöglich machten, die starre Maske mit dem »Onkos«, einer Art riesigem Chignon, die unförmige Polsterung des ganzen Körpers, sogar der Finger, der groteske Prunk der wallenden Ärmel und Schleppen. Die Bewegungen waren offenbar auch in leidenschaftlichen Momenten stets getragen und hieratisch, wie mit der Zeitlupe aufgenommen, etwa von der Art, wie sie Richard Wagner des öftern vorschreibt. Daß die Maske schallverstärkend wirken sollte, ist unwahrscheinlich, da man ja, wie gesagt, überall sehr gut hörte; ebensowenig ist anzunehmen, daß man sie einführte, weil der Mime mehrere Personen und auch Frauen darzustellen hatte: Da wissen sich Schauspieler schon auf andere Weise zu helfen. Diese Gestalten sollen gar keine Menschen sein, sondern »Bilder«: Sinnbilder, Gleichnisse, Masken, Schatten. Darum sind sie überlebensgroß, ausdruckslos, puppenhaft, in altertümliche, barbarische Gewänder gewickelt. Das tragische Geschehen ist ein Mysterium, darum darf es nicht die Formen der Realität haben. Daher wird auch alle wirkliche Handlung, alle starke Aktion: Mord, Wahnsinn, Zweikampf hinter die Szene verlegt. Das war nicht etwa zarte Rücksicht: den Nerven des hellenischen Publikums konnte man alles zumuten, und in der Tat werden ja die blutigen Leichen mit Vorliebe gezeigt und die Greueltaten in der Erzählung kraß und breit ausgemalt. Aber die Sache selbst vorzuführen, wäre eine unerlaubte Gegenständlichkeit gewesen. Ebenso gibt es auch keine Charakterentwicklung: sich seelisch zu wandeln, 827 ist Sache der Irdischen und der Lebenden; Götter und Tote haben keine Biographie. Das Ganze ist ein gespieltes Relief.

Das Kostüm der Komödie ist denn auch ein wesentlich anderes: flache Schuhe, Trikots, bürgerliche Garderobe, nur Wanst und Gesäß lächerlich dick. Der ebenfalls unförmig große Phallus aus rotem Leder war wahrscheinlich keine Obszönität, sondern ein Symbol des Dionysos und der Vegetation; er gehört auch zur Ausrüstung der weiblichen Figuren. Die Tanzchöre: Wolken, Wespen, Vögel, Frösche und dergleichen bizarre Phantasiegestalten, hatten annähernd die Funktion unserer Revuegirls. Die Maske war zwar beibehalten, doch hatte sie öfters Porträtähnlichkeit mit stadtbekannten Personen: Kleon, Sokrates, Euripides. Das Szenische war ebenfalls bedeutend realistischer: richtige Häuser mit Stockwerken, plastische Versatzstücke, komische Attrappen und dergleichen; die Handlung spielte mit Vorliebe zwischen zwei Nachbargebäuden, zwei Etagen, Erde und Olymp.

Ursprünglich war der Dichter zugleich Chormeister und Schauspieler, und die drei Tragödien, die er zu liefern hatte, bildeten eine wirkliche Trilogie; später ging man von diesen Forderungen ab. Außerdem mußte er noch zum heitern Abschluß ein Satyrspiel schreiben, worin der Heros von seiner menschlichen Seite gezeigt wurde und der tragische Affekt sich in Selbstironie auflöste; es war eine Art Abreagieren. Was die perspektivische Kunst eines Shakespeare und Ibsen in die Tiefenwirkung eines einzigen Bildes zusammenfaßt, war hier auf zwei verschiedene Genres verteilt. Erst im Weltaspekt des Christentums, dem alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, konnte der tragische Humor erstehen.

Was gespielt wurde, bestimmte der Bürgermeister, der unter den Dichtungen, die für den tragischen Agon eingereicht wurden, eine Auswahl traf. Hier erheben sich nun einige schwer zu beantwortende Fragen. War der Archon eine Art Zensor, der 828 lediglich nach religiösen und politischen Gesichtspunkten zu urteilen hatte? Aber die erhaltenen Komödien zeigen, daß in Athen nahezu alles erlaubt war. Fällte er aber eine künstlerische Entscheidung, wie konnte er dazu befähigt sein, da er doch, wie die meisten athenischen Beamten, ein ausgeloster Laie war? Und warum übertrug man dies nicht, wie bei den Preisrichtern, die einen der drei konkurrierenden Dichter zu krönen hatten, wenigstens einer vereidigten Kommission? Denn die Frage der Annahme und Ablehnung war doch mindestens ebenso wichtig. Aber gab es überhaupt ein großes Überangebot? Gab es Dilettanten? Gab es verkannte Genies? Man weiß nur von Theaterskandalen, bei denen der Stoff oder seine Auffassung Mißfallen erregte; von durchgefallenem Schund ist nie die Rede. Auch die Dichter, deren Stücke später als »zweiten Ranges« galten und daher verlorengegangen sind: Ion, Agathon, Kritias und andere müssen ausgesprochene Künstler gewesen sein. Man vermißt die Figur des reichen oder einflußreichen Stümpers (der Choreg zum Beispiel, der alles bezahlte, hätte doch sicher seine eigenen Stücke oder die seiner Günstlinge durchdrücken können) und des ewig Unaufgeführten (man kannte wohl das Drama als Buch, aber der Begriff des »Buchdramas« war allem Anschein nach unbekannt); hätte es diese Erscheinungen gegeben, so hätte die Komödie sie sich gewiß nicht entgehen lassen, auch Theophrast hätte sie in seinen Charakterbildern zumindest gestreift. Vielleicht waren eben die technischen Voraussetzungen, die ein Dramatiker mitbringen mußte, so groß, daß nur eine kleine Gruppe von Menschen sie erfüllen konnte. Er mußte ja nicht bloß alle Subtilitäten der Versbildung vollkommen beherrschen, sondern auch sowohl die Musik wie die Tänze neu und selbständig erfinden. Dies können auch heute nur wenige, und vielleicht verhielt es sich wie mit unseren wissenschaftlichen Preisausschreiben, bei denen ebenfalls immer nur ein paar Bewerber auftreten. Übrigens 829 hört man auch auf dem Gebiet der Malerei und Skulptur nie etwas von zweifelhaften Amateuren. Es gab selbstverständlich massenhaft Dutzendware und viele ganz handwerksmäßig hergestellte Arbeiten; aber im großen und ganzen scheint die Geschmackswidrigkeit, daß einer etwas macht, das er nicht kann, erst auf dem Boden der römischen Parvenükultur sich in ihrer vollen Breite entfaltet zu haben.


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