Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Das Volk des Buches

Der Kanon des Alten Testaments wurde erst um 100 nach Christus endgültig festgestellt und abgeschlossen. Maßstab der Kanonizität war die Inspiration der Verfasser; als Zeitalter des Erlöschens der göttlichen Inspiration galten die Tage Esras und Nehemias. Ihre heiligen Schriften zerlegten die Juden in drei 474 Gruppen. An der Spitze stand das »Gesetz«, die Thora im engeren Sinne, die die fünf Bücher Mosis umfaßt. Dann folgten die »Propheten«, zu denen außer den eigentlichen Propheten auch die geschichtlichen Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige gehörten. Den Beschluß machten die »Schriften«: jene Bücher, von denen man überzeugt war, daß sie noch in der prophetischen Zeit verfaßt, also inspiriert seien. In Wirklichkeit stammten sie fast alle aus der Zeit nach Esra; die Fiktion war aber dadurch ermöglicht, daß sie anonym oder unter dem schützenden Mantel eines alten Namens erschienen waren. Diese dritte Gruppe ist die bunteste: in ihr hat neben Religiösem und Historischem auch Novellistisches, praktische Lebensweisheit und weltliche Lyrik Platz gefunden. Wie streng aber trotzdem das Merkmal der »Prophetie« zur Richtschnur genommen wurde, zeigt das klassische Werk des Jesus Sirach, dem, weil es sich zu einem späteren Datum bekannte, die Aufnahme verweigert wurde. Dieser definitive Kanon ist aber bloß der letzte, nicht der erste: Schon viel früher gab es Zusammenstellungen heiliger Schriften von größerem oder geringerem Umfang: er ist die abschließende Sammlung der Sammlungen. So sind die Juden das »Volk des Buches« geworden; alles: Ihre Religion und Philosophie, Geschichte und Rechtslehre steht in einem einzigen Buch.


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