Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Alkibiades

Der erste Abschnitt des Kampfes, der von 431 bis 421 währte und nach dem damaligen König von Sparta der archidamische Krieg genannt wird, stand unter dem Zeichen der perikleischen Ermattungsstrategie. Die attische Landbevölkerung flüchtete sich in die Stadt, während die Spartaner alljährlich (im Winter ruhten die militärischen Operationen) in die feindlichen Gebiete einfielen. Aber weder ihre Brände und Verwüstungen noch die Leiden der Pest, die sich infolge der engen Wohnverhältnisse und des schlechten Trinkwassers entwickelte und ein Viertel der Einwohnerschaft Athens, darunter Perikles, zum Opfer forderte, vermochten eine Entscheidung herbeizuführen. Der einzige nennenswerte Erfolg der Spartaner war die 803 Eroberung Plataiais. Es kam daher zu Friedensangeboten; aber die Athener, aufgehetzt von Kleon, dem Führer der radikalen Demokratie, einem typischen politischen Dilettanten, waren verblendet genug, sie abzulehnen. Dann aber brachte die Niederlage in der Schlacht bei Delion, dem einzigen großen Landtreffen des Krieges, und der Verlust des wichtigen Schlüsselpunktes Amphipolis für sie die Wendung. Da auch Kleon inzwischen gefallen war, gelangte der besonnene Nikias zu dem nach ihm benannten sehr glimpflichen Frieden, der aber nicht einmal als ein Waffenstillstand angesehen werden kann, weshalb Thukydides betont hat: wenn jemand die Friedenszeit nicht als Krieg rechnen wolle, so beurteile er die Verhältnisse nicht richtig. Denn schon hatte man sich in das gefährliche sizilische Abenteuer eingelassen. Der ebenso großartige wie phantastische Plan stammte aus dem Kopfe des Alkibiades: Die unter sich uneinige, im Wohlleben erschlaffte und militärisch rückständige Griechenwelt Siziliens und Unteritaliens sollte unterworfen, mit ihrer Hilfe Karthago bezwungen und sodann die Herrschaft über das Mittelmeer errichtet werden, womit ein Königtum des Alkibiades, einerlei in welcher Form, Hand in Hand gegangen wäre. Zunächst war das Volk von diesen ungeheuren Aussichten auf Machterweiterung berauscht; kurz vor dem Abgang der Expedition aber fand man eines Morgens alle Hermen in Athen ohne Kopf; wahrscheinlich eine Tat der angeheiterten jeunesse dorée oder vielleicht auch einer Gesellschaft hellenischer »Satanisten«; aber man nahm die Sache furchtbar ernst und verdächtigte den Alkibiades, der allerdings zu so etwas schon fähig war und ohnehin »nach der Tyrannis strebte«, und außerdem bezichtigte man ihn, er habe die Mysterien von Eleusis ausgeplaudert, obgleich da allem Anschein nach nicht viel zu verraten war. Schließlich einigte man sich dahin, den Prozeß bis zur Rückkehr des Alkibiades zu vertagen. Die Flotte ging ab; dann aber wurde doch plötzlich die Anklage 804 erhoben und Alkibiades in contumaciam zum Tode verurteilt. Er aber sagte: »Wir werden beweisen, daß wir noch am Leben sind« und ging nach Sparta. Er klärte die dortige Regierung darüber auf, daß ein athenischer Sieg im Westen die Blockade des Peloponnes und den Untergang der lakedaimonischen Großmachtstellung bedeute, und bewirkte dadurch die Wiederaufnahme des Kriegs, und nicht genug damit, brachte er auch ein Bündnis mit Tissaphernes, dem Satrapen in Sardes, zustande, der Sparta Hilfsgelder zahlte, gegen Überlassung der Griechenstädte, die vor den Freiheitskriegen Persien untertan waren (eine moderne Analogie bietet der Vertrag Österreichs mit Napoleon dem Dritten vom 12. Juni 1866, der diesem für den Fall der Wiedergewinnung Preußisch-Schlesiens als »Kompensation« das linke Rheinufer zusagte). Inzwischen aber war nach anfänglichen, verheißungsvollen Erfolgen die sizilische Expedition vollkommen gescheitert: die Flotte der Athener erlitt im Hafen von Syrakus eine Niederlage, und ihr abziehendes Landheer wurde teils vernichtet, teils gefangen. Da das Unternehmen ausgesprochen imperialistischen Charakter trug, hätte es einer Polis niemals gelingen können, wohl aber dem Genie eines Alkibiades, der, der historischen Entwicklung um ein Jahrhundert vorauseilend, bereits das dynastische Weltmachtprinzip der Diadochen verkörperte. Und nun folgte der Dekeleische Krieg, 413 bis 404, der so heißt, weil die Spartaner sich diesmal nicht mit den bisherigen Plünderungszügen nach Attika begnügten, sondern sich dort in dem Fort Dekelea dauernd festsetzten: eine viel empfindlichere Maßregel, die das gesamte attische Wirtschaftsleben ins Stocken brachte und, ebenso wie die vortreffliche Wahl des Ortes, wiederum von Alkibiades herrührte. Doch wurde diesem allmählich auch der spartanische Boden zu heiß, da er dem König Agis nicht nur in seiner politischen Stellung, sondern auch in seiner Ehe erfolgreich Konkurrenz machte, und er begab sich nunmehr zu Tissaphernes, 805 dem er nahelegte, daß es das Beste für Persien sei, durch eine wohlausgewogene Schaukelpolitik keine der beiden griechischen Vormächte hochkommen zu lassen: ein ingeniöser Schachzug, durch den er sich die Rückkehr nach Athen zu sichern suchte. Er wurde in der Tat im Jahre 411 zurückberufen und siegte bald darauf bei Kyzikos. Sparta war bereit, unter Anerkennung des status quo Frieden zu schließen; aber Alkibiades, der nur im Krieg seine hochgespannten Ziele erreichen konnte, hintertrieb die Einigung, unterstützt von dem Leierfabrikanten Kleophon, einem zweiten Kleon. Er stand damals knapp vor der Thronbesteigung. Aber gerade zu jener Zeit war auch den Spartanern in Lysander ein Mann erstanden, der dem Alkibiades in der Wahl der Mittel, wenn nicht an Geist, so doch zumindest an Gewalttätigkeit und Skrupellosigkeit ebenbürtig war. Er siegte 407 bei Notion, nicht durch die Schuld des Alkibiades, dessen Sturz damit gleichwohl besiegelt war. Im darauffolgenden Jahr kam es zur Seeschlacht bei den Arginusen, der größten, die je zwischen Griechen geschlagen wurde. Die Athener blieben Sieger; trotzdem wurden die Admirale unter der Anklage, die Rettung der Schiffbrüchigen vernachlässigt zu haben, hingerichtet. Wiederum bot Sparta unter denselben Bedingungen wie nach Kyzikos die Hand zum Frieden und wiederum setzte Kleophon die Ablehnung durch. Die vollständige Vernichtung der attischen Flotte bei Aigospotamoi, einem Küstenflüßchen des thrakischen Chersones, führte zur Kapitulation Athens, das nun nicht mehr über die maritimen Kräfte verfügte, um seine Aushungerung verhindern zu können. Die Erbfeinde Korinth und Theben verlangten, daß Athen zur Schafweide gemacht werde; aber es gereicht den Spartanern zur Ehre, daß sie davon nichts wissen wollten. Der lakonische Depeschenwechsel zwischen Lysander und der spartanischen Regierung lautete: »Athen ist genommen«; »die Einnahme genügt«. Man huldigte, wie Xenophon berichtet, der edlen 806 Auffassung, »daß man nicht eine Griechenstadt vernichten dürfe, die einst Hellas aus größter Not errettete«; dazu kam sicher auch der Respekt vor dem Kulturzentrum. Aber schon daß die bloße Möglichkeit diskutiert wurde, gewährt einen erschreckenden Blick in den Abgrund der hellenischen Seele. Die »langen Mauern« allerdings wurden geschleift und alle auswärtigen Besitzungen mußten herausgegeben werden, Als Lysander im April 404 in den Piräus einzog, bejubelten ihn nicht nur die befreiten Bündner, sondern auch viele Athener; denn die Demokratie war in den letzten Jahren eine wahre Schreckensherrschaft gewesen. Die Entscheidung in dem großen Kriege aber hatte das Ausland gebracht. Athen war zu Lande nicht beizukommen; und nur die persischen Subsidien hatten es den Spartanern ermöglicht, eine der attischen ebenbürtige Flotte zu schaffen. Und Persien war es auch, das die größten Vorteile aus dem Kriege zog. Der Effekt war ein ähnlicher wie bei den beiden großen deutschen Bruderkriegen, dem Dreißigjährigen, aus dem Frankreich, und dem Siebenjährigen, aus dem England als der wahre Sieger hervorging. Geführt aber wurde der Dekeleische Krieg auf allen drei Seiten von Alkibiades, der im Jahre des Friedensschlusses von Phernabazos, dem Satrapen von Phrygien, auf Anstiften der Spartaner hinterlistig ermordet wurde. Dieser Mensch, eine der interessantesten und geheimnisvollsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte, machte offenbar mit der ganzen Welt, was er wollte, denn niemand vermochte sich seiner Hypnose zu entziehen. Beide Geschlechter waren in ihn rettungslos verliebt, denn er war nicht nur von erlesener Schönheit und Anmut, sondern überhaupt ein Alleskönner: der beste Reiter und Turner, Trinker und Redner, Musiker und Dialektiker, Feldherr und Diplomat, er war einfach unwiderstehlich. Und vor allem war er der vollendetste Schauspieler: wenn es darauf ankam, mehr Lakonier als alle Spartaner zusammengenommen und orientalischer als alle persischen 807 Magnaten, in seiner Haupteigenschaft aber der stärkste Extrakt des Geistes von Athen. Denn er besaß die Gabe, sein ganzes Dasein in eine Kette von glänzenden Skandalen zu verwandeln, man kann aber auch sagen: die Gabe, aus seinem Leben ein Gedicht zu machen. Seine Biographie ist ein Epos, freilich nicht eines im alten pathetischen und heroischen Stil, sondern der blitzschnell von Peripetie zu Peripetie eilende, in allen Chamäleonsfarben schillernde Roman des »verfluchten Kerls«. Im vierten Jahrhundert bemächtigte sich die Rhetorik seiner Gestalt, und es wurde in zahlreichen Abhandlungen heiß darüber gestritten, ob er ein Genie oder ein Verbrecher gewesen sei und ob seine Vaterstadt ihn zu ihrem Heile oder zu ihrem Verderben von sich gestoßen habe. Vom moralischen Standpunkt aufgeworfen, ist die ganze Frage töricht: Alkibiades ist als ethische Potenz überhaupt nicht zu werten, er war ein Abenteurer, aber die hellenische Form der öffentlichen Macht war eben überhaupt der Abenteurer; politisch gestellt, ist sie im Rückblick dahin zu entscheiden, daß Alkibiades, wenn man ihm freie Hand gelassen hätte, die alexandrinische Entwicklung vorweggenommen und damit die römische kupiert hätte: Es wäre also wahrscheinlich zu einer hellenischen Mittelmeerherrschaft gekommen und die lateinische in der Wurzel erstickt worden. Ob dies für die griechische Kultur gut gewesen wäre, ist aber wiederum eine andere Frage. Der Allerweltsalexandrinismus wäre ein Jahrhundert früher gekommen, und schon dieser kam ja zu früh.


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