Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Empedokles und Anaxagoras

Die zeitgenössische Philosophie war aber bereits ganz andere Wege gegangen. Zwar Empedokles, der um 430 starb (also etwa zu der Zeit, als Polyklet blühte), mutet noch halb archaisch an, steht aber in seiner Umwelt wie ein Kuriosum. Er führte in Agrigent, dem jetzigen Girgenti, dessen Hafen noch heute Porto Empedocle heißt, ein legendenumsponnenes Dasein als Staatsmann, Arzt und Wundertäter (in einem Fragment sagt er selbst zu seinen Mitbürgern: »nicht mehr als Erdensohn, sondern als unsterblicher Gott wandle ich unter euch«) 850 und endete, hieß es, durch Entrückung zu den Himmlischen, nach anderen durch einen Sprung in den Ätna. Seine pittoreske Biographie hat noch lange die Nachwelt beschäftigt. Hölderlin schrieb ein unvollendetes Trauerspiel Der Tod des Empedokles: Empedokles, der die Natur im tiefsten erkannt hat, erhebt sich dadurch über sie und erklärt sich zum Gott, aber dies ist eben Überhebung: er erträgt es nicht, »allein zu sein« und sühnt die Schuld durch freiwilligen Tod. Nietzsche entwarf im Winter 1870/71 ein Drama Empedokles: »Empedokles, der durch alle Stufen: Religion, Kunst, Wissenschaft getrieben wird und die letzte auflösend gegen sich selbst richtet.« Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch Zarathustra vom Dichter ein empedokleisches Ende zugedacht war: der »schenkende Tod«. Und im Grunde war auch Nietzsches eigene geistige Umnachtung eine Art »Flucht in den Ätna«, im Sinne des Zarathustraworts: »Ich liebe den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst: denn er will am Gegenwärtigen zugrunde gehen.«

In seiner Philosophie folgte Empedokles noch ganz der halb mythologischen, halb allegorischen Erklärungsart der ionischen Physiologen. Mit Parmenides ist er der Meinung, daß nichts wahrhaft Seiendes entstehen oder vergehen könne, und die Wandelbarkeit der Dinge führt er auf Mischung und Entmischung gewisser unveränderlicher Bestandteile zurück, »aber die Menschen nennen dies ein Werden«. Es gibt deren nur vier: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Hiedurch ist Empedokles der Begründer der Lehre von den vier Elementen geworden. Im Anschluß an ihn erklärte Aristoteles, es könne nur vier Zustände geben: den kalten und feuchten: Wasser, den kalten und trockenen: Erde, den warmen und feuchten: Luft, den warmen und trockenen: Feuer; dies sind die sogenannten peripatetischen Elemente, die im Mittelalter eine große Rolle spielten. Die arabischen Naturphilosophen konstatierten vier 851 Grundeigenschaften: metallisches Wesen, Verbrennlichkeit, mineralisches Wesen, Löslichkeit, und als deren Repräsentanten: Quecksilber, Schwefel, Erde, Salz. Diese sind aber nicht mit den empirischen Stoffen identisch, sondern geistige Wesenheiten: Es gibt ein »philosophisches« Salz und Quecksilber, eine philosophische Erde und, was wohl am wenigsten bestreitbar ist, einen philosophischen Schwefel. Es gehen sogar auch die vier Temperamente auf Empedokles zurück: Das cholerische leitete man vom Feuer her, das sanguinische von der Luft, das melancholische von der Erde, das phlegmatische vom Wasser (zutreffender wäre es vielleicht gewesen, das Phlegma mit der Erde und die Melancholie mit dem Wasser in Verbindung zu bringen). Was die Mischung und Entmischung bewirkt, ist nach Empedokles φιλία, die Liebe, und νεῖκος, der Streit: Philia verbindet, Neikos scheidet das Ungleichartige. Diese Vorstellung vom »Lieben und Hassen der Elemente« ist ebenfalls bis zum heutigen Tage nicht verschwunden: sie findet ihren wissenschaftlichen Ausdruck in dem Begriff der »chemischen Wahlverwandtschaft« und bildet eines der Grundprinzipien Häckels, der alle Verdichtung und Verdünnung, Vereinigung und Trennung, Anziehung und Abstoßung auf Lust und Unlust, Sympathie und Antipathie der Atome zurückführt, weshalb Wundt mit Recht betont hat, daß der Monismus ganz und gar dem »poetischen Stadium der Metaphysik« angehöre. Übrigens hat Empedokles, noch deutlicher als Anaximander, auch schon den Darwinismus antizipiert: nach seiner Lehre brachte die Natur zuerst nur einzelne Gliedmaßen hervor, die für sich allein umherirrten und nicht lebensfähig waren, dann vereinigten sie sich zu monströsen Gebilden: Doppelgesichtern, Zwittern, Ochsenmenschen, die ebenfalls keinen Bestand hatten, und erst zuletzt kam es zu den heutigen Formen; mit anderen Worten: die Natur experimentiert, wobei das Zweckmäßige sich erhält, das Unzweckmäßige untergeht. Anaximanders Vorahnung des 852 Gesetzes von der Erhaltung der Materie hingegen hat Anaxagoras bestimmter formuliert: »Man muß wissen«, sagt er, »daß alles Vorhandene nicht weniger und nicht mehr werden kann. Denn es ist nicht denkbar, daß es mehr gibt als das Vorhandene, sondern alles Vorhandene muß sich selbst gleich sein.« In Klazomenai bei Smyrna geboren, übersiedelte er um 460 nach Athen und begründete den philosophischen Primat dieser Stadt, der sich über ein Jahrtausend erhielt. Von seinen letzten Lebensschicksalen haben wir schon gehört; das Werk, das ihm die Anklage wegen Asebie eintrug, war das erste griechische Buch, das mit »Diagrammen«, erläuternden Zeichnungen ausgestattet war, und soll sich durch ebenso anmutige wie präzise Darstellung ausgezeichnet haben. Die Sinneswahrnehmung erklärt er durch das Phänomen des Kontrasts: das Gleiche sei »unempfindlich für das Gleiche«, daher müsse das Auge dunkel sein, um das Licht aufnehmen zu können, der Körper kalt, um wärmeempfänglich zu sein. Den Pflanzen sprach er nicht nur ein Sinnenleben zu, sondern auch Orientierungsvermögen und die Fähigkeit zu Lust und Schmerz, die Fruchtbildung verglich er mit der Zeugung, die Blätter mit Federn. Die intellektuelle Überlegenheit des Menschen setzte er in den Besitz der Hand. Um die Genialität dieser und ähnlicher Beobachtungen zu würdigen, muß man bedenken, daß Anaxagoras der erste war, der sie gemacht hat. Auch er leugnete das Werden: »das Entstehen und Vergehen nehmen die Hellenen nicht mit Recht an«, und erklärte alle Veränderung durch Mischung und Entmischung, aber nicht der vier Elemente, die selber Gemische seien, sondern einer größeren Anzahl von Urstoffen, der »Spermata« oder, wie sie Aristoteles genannt hat, der ὁμοιομερῆ, der »aus gleichartigen Teilen bestehenden« Grundstoffe. Dies sind ganz einfach die Elemente der modernen Chemie, deren Zahl bekanntlich zweiundneunzig beträgt, wovon bisher neunzig festgestellt sind. Ferner hat Anaxagoras betont, daß nur ein 853 Teil der Homöomerien den menschlichen Körper zusammensetze: er nennt sie »Blutteilchen«, »Markteilchen«, »Knochenteilchen« und so ähnlich. Auch dies hat die moderne Forschung bestätigt: Nur zwölf von den Elementen bilden die unerläßlichen Bausteine aller lebendigen Substanz, die übrigen finden sich in den Zellen entweder gar nicht oder nur sporadisch. Die Vorstellungen des Anaxagoras waren also ganz exakt wissenschaftliche. Wenn daher Deussen in seiner »Geschichte der Philosophie«, dem Lehrbuch eines ausgezeichneten Didaktikers und ebenso großen Philisters, den Einwand macht: »Nach Anaxagoras müßte die Nahrung, die wir zu uns nehmen, zum Beispiel beim Säugling die Milch, alles, was seinen Körper aufbaut, nicht nur das Blut, sondern auch Knochen, Fleisch, Mark, Haare, Nägel und so weiter schon tatsächlich in sich enthalten«, so ist darauf zu erwidern, daß die Kindermilch tatsächlich alle Bestandteile, aus denen die Körpersubstanzen gebildet sind, in sich enthält und auch die Nahrung des Erwachsenen, so mannigfaltig sie erscheint, nur aus Fett, Eiweiß, Stärke, Salzen und Wasser besteht, also auch nur eine gewissermaßen auf Fleisch und Vegetabilien verteilte Milch ist.


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