Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Das Gespenst

Aber Gott hat jeder Kreatur eine einmalige Seele und Gestalt verliehen: Im Bereich des Lebendigen gibt es keine Dubletten. Daher haben alle Renaissancen, Restaurationen und »Wiedererweckungen« etwas Atheistisches und zugleich etwas Galvanisches: der Attizismus der römischen Kaiserzeit, der nachexilische Mosaismus, die Rinascita der italienischen Humanisten, der Klassizismus Winckelmanns. Eine Sonne, unter der es nichts Neues gäbe, wäre keine, und eine Welt, in der alles schon dagewesen ist, wie der alberne Akiba behauptete, könnte nur eine Schöpfung des Teufels sein, der ja wirklich auffallend wenig Phantasie besitzt. Indem die Ägypter im Alter sich selbst plagiierten und als die Wachsfiguren ihrer eigenen Vergangenheit umherwandelten, erstarrte ihre Kultur zur grandiosen Kulisse, als die sie noch heute vor uns steht: unglaubwürdig und doch voll theatralischem Reiz. Damals entstand die Legende vom einförmigen, gefrorenen Ägypten, das durch die Jahrtausende seiner Geschichte gleichsam eingeschneit war, wenn diese Bemerkung bei einem subtropischen Lande gestattet ist. Gestehen wir es uns ein: Ägypten ist ein Gespenst. Wie jedes Gespenst ist es sehr unheimlich, aber daneben doch auch ein bißchen komisch; und abgestorben, aber doch nicht völlig kraftlos: man denke an die Rache Tutenchamons! Das 410 Ägyptertum der Saïtenzeit, das als Schauspiel immer noch erhaben genug war, um der hellenischen Welt scheue Bewunderung zu entlocken, war der letzte Abendschatten, den Vater Re warf, als er bereits untergegangen war. Wie jener dritte Ramses redete die Nilkultur bereits aus dem Grabe. Was die Griechen zu Gesicht bekamen, war nichts als die goldene Totenmaske Ägyptens. 411

 


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