Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die griechische Kolonisation

Die griechische Kolonisationstätigkeit erreichte ihre höchste Intensität in der Zeit zwischen 750 und 550. Ihre Hauptknotenpunkte, gleichsam Ganglien, die nach allen Richtungen ihre Nervenfasern aussandten, waren dorischerseits Korinth, Megara und Aigina, ionischerseits Chalkis und Eretria auf Euboia und Milet und Phokaia in Kleinasien, welche beiden letzteren durch ihre Doppellage am Meer und im Mündungsgebiet großer Flüsse (Milet unweit vom Maiander, Phokaia beim Hermos) eine beherrschende Stellung einnahmen. Die neuen Siedlungen waren in erster Linie Ackerstädte und daher vor allem mit Rücksicht auf gutes Fruchtland gewählt; doch sah man 670 daneben natürlich auch auf günstige Hafenbedingungen. So breiteten sich nun (»wie ein Fächer«, sagt Burckhardt) binnen zwei Jahrhunderten griechische Pflanzstädte über das ganze Mittelmeergebiet hin, und noch darüber hinaus als ein dichter Saum rings um das Schwarze Meer. Man darf aber dabei nicht an ein modernes Kolonialreich etwa nach englischem Muster denken, denn die Tochterstädte waren politisch vollkommen selbständig und mit der Mutterpolis nur durch ein allerdings oft sehr starkes Pietätsverhältnis verbunden.

Im Norden wurde die makedonische und die thrakische Küste hauptsächlich von Eretria und Chalkis aus besiedelt, so daß die Halbinsel Chalkidike daher ihren Namen führte. Auf der westlichsten ihrer drei Landzungen gründete Korinth Poteidaia, das, als verkleinertes Abbild seiner Mutterstadt, ebenfalls zwischen zwei Meerbusen liegt. Durch Milet, das dort allein neunzig Kolonien ins Leben rief, wurde der Pontos, bisher axeinos, der ungastliche genannt, zum euxeinos, dem gastfreundlichen, während die Megarer durch die einander gegenüberliegenden Schwesterstädte Kalchedon und Byzantion die Bosporusstraße beherrschten. Die Dardanellen und die Donaumündungen, die Kaukasusküste und die Halbinsel Krim: das alles stand unter griechischem Einfluß. Bis nach Kiew gingen die ionischen Tauschwaren, während aus den unerschöpflich reichen Gebieten Südrußlands Wolle und Holz, Vieh und Getreide nach Griechenland strömte. Im Süden gelangten die Hellenen bis an die nordafrikanische Küste: Hier stifteten Dorer in der Kyrenaike einige blühende Städte. Die berühmte Arkesilasschale aus der Mitte des sechsten Jahrhunderts schildert, wie der kyrenaische König Arkesilas der Zweite das Wägen und Verladen von Silphion beaufsichtigt. Kallimachos, der gefeiertste Dichter, und Eratosthenes, der einflußreichste Gelehrte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, stammten aus Kyrene. Eine Ausbreitung über das libysche Gebiet hinaus 671 hinderte im Westen Karthago, im Osten Ägypten, doch hatten in der Nilstadt Naukratis hellenische Kaufleute eine ähnliche Stellung wie die Hanseaten in London.

An der südfranzösischen Küste gründeten die Phokaier Massalia, das jetzige Marseille, von wo aus über Rhone und Loire Handelsexpeditionen bis an den Atlantischen Ozean gingen. Auch die Namen Antibes und Nizza erinnern noch heute an die antiken Niederlassungen Antipolis und Nikaia. Die wichtigsten Kolonien aber erstanden, seit spätestens dem Anfang des siebenten Jahrhunderts, in Süditalien und auf Sizilien, wo noch auf weiten Strecken ein jungfräulicher Boden der Befruchtung harrte. Die Hauptbesiedler waren Achaier. Die großartigen Verhältnisse, die sich dort entwickelten, fanden in der Bezeichnung »Großhellas« ihren Ausdruck, die für diese Gebiete gebräuchlich wurde. Neapel und Tarent, Agrigent und Syrakus sind Namen von weltgeschichtlichem Klange. Der Reichtum der Metapontier, die bezeichnenderweise die Kornähre in ihrem Wappen führten, war ebenso sprichwörtlich wie die dialektische Finesse der Eleaten und die raffinierte Lebenskunst der Sybariten. Sizilien war die Heimat der wissenschaftlichen Kochkunst. Aus Kroton kamen die besten Ärzte. Von den Akragantinern sagte man: sie bauen, als ob sie ewig leben, und speisen, als ob sie morgen sterben wollten. In ihrer Stadt sah man Tempel von ganz ungriechisch riesenhaften Ausmaßen, die kostbarsten Grabdenkmäler, auch für Rennpferde, mehrstöckige Weinkeller, einen fünfviertel Kilometer langen künstlichen Fischsee, Kavalkaden von dreihundert Schimmelgespannen und goldenes Badegerät.

Die gesamte Kultur Italiens ist griechisch. Das Alphabet, das Kunsthandwerk, die ganze Literatur, sogar die spätere Religion: dies alles entwickelte sich in Rom nach griechischen Vorbildern. Ebenso alle Zweige der Technik: daher die vielen Fremdwörter des Lateinischen für ganz alltägliche Dinge. 672 Infolgedessen kamen die Römer nie zu einem geistigen Eigenleben und trugen immer ein fremdes Kostüm, obschon das köstlichste und kostbarste, das zu haben war. Es gibt keine römische Seele. Und so vollzog sich das erschütternde historische Schauspiel, daß Rom die ganze Welt besaß, sich selbst aber niemals. Nur der Norden blieb vom Fluch und Segen des hellenischen Füllhorns fast unberührt: im Altertum mißachtet, wurde er in neuerer Zeit die Quelle der Kraft in Staat, in Kultur: die Nachkommen der barbarischen Veneter und Ligurer schufen die Macht Venedigs und Genuas, der beiden Königinnen des Meers, in Florenz erwachte die Renaissance, in Piemont der Risorgimento, der zur Einheit führte, und auch der Faschismus kam vom Norden.

Um die Mitte des sechsten Jahrhunderts erlahmt die Kolonisationsbewegung. Neue Großmächte drängen empor: im Osten die Perser, die auch bald darauf ihre Hand auf Ägypten legen, im Westen die Etrusker und die Phoiniker. Dagegen beginnt um diese Zeit der Aufstieg Athens. Attika zählte im sechsten Jahrhundert etwa hunderttausend Einwohner, im fünften eine Viertelmillion; davon waren etwa die Hälfte, vielleicht sogar zwei Drittel Sklaven oder ortsansässige Fremde. Vorher war das bedeutendste Emporium der ägäischen Welt Aigina gewesen, eine kleine unfruchtbare Felseninsel, aber vermöge ihrer vorzüglichen Lage und einer starken Flotte im Besitz ausgedehnter Handelsbeziehungen, einer regen Industrie, die bereits Ansätze zum Sklavengroßbetrieb zeitigte, und ansehnlicher Kapitalkräfte: Es gab dort schon mehrere notorische »Millionäre«. Im Laufe des sechsten Jahrhunderts eroberte sich die attische Tonware den Weltmarkt.


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