Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Rhetorik

Auch die Karikatur der sogenannten mittleren Komödie, von der nur Bruchstücke übriggeblieben sind, nähert sich viel mehr als bisher dem Leben: sie huldigt nicht mehr der ausgelassenen Phantastik der älteren Richtung, wobei sie allerdings viel von ihrer schäumenden Dämonie und blutreichen Originalität verliert. Indem sie sich zugleich entpolitisiert und auch auf die persönliche Invektive verzichtet, wird sie immer mehr zu der zahmen Bürgerunterhaltung, die sie seither geblieben ist. Ihre Lieblingsthemen sind Parodien auf bekannte Tragödien, allegorische Märchen, vor allem aber typisierende Genrebilder, wie schon die Titel zeigen: der Arzt, der Parasit, der Soldat, der Barbier, die Dichterin, die Flötenbläserin, die Pythagoreerin. Stark ausgeschrotet wurde auch das Doppelgängermotiv: Die Zwillinge, Die Ähnlichen, Amphytrion. Was die Entwicklung der Tragödie anlangt, so sagt Aristoteles in seiner Poetik: die alten Tragiker ließen ihre eigene Reflexion hinter dem Ethos (das heißt: der Individualität) der handelnden Personen zurücktreten, die jetzigen setzen an Stelle des Ethos rhetorisches und dialektisches Räsonnement. Andrerseits aber war die Rhetorik das, was den griechischen Ruhm und Einfluß am weitesten durch Zeit und Raum getragen hat: Die griechische Dialektik und Stilkunst war Gegenstand der Bewunderung bei Völkern, die sonst nichts von griechischer Kultur wußten, und noch bei den Christen, die sonst alles Heidnische verachteten. Das vierte Jahrhundert war die Blütezeit der Redekunst und alles hellenische Wesen von ihr durchtränkt. Selbst der Kanzleistil hatte den Ehrgeiz rhetorischer Wirkung. Den Panegyrikos, die Lobrede auf gefallene Helden, hat Ephoros aus Kyme in Kleinasien zu 927 einem Hauptstück der Geschichtsschreibung gemacht, ein Zeitgenosse Philipps und Alexanders und Schüler des Isokrates, Verfasser der ersten griechischen Universalgeschichte, die er von den Wanderungen bis zur Gegenwart erzählte, und einer der am meisten ausgeschriebenen Historiker des Altertums. Die großen Redner waren eine Vereinigung von Advokat, Parlamentarier und Pasquillant, dies alles in der höchsten Vollendung. Der Rhetor sprach stets frei (ein Vortragender, der abliest, wäre den Griechen ebenso unmöglich erschienen wie eine Architektur, die den nackten Stein verwendet, oder eine Dichtung, die auf Musik verzichtet); ferner verlangte man von ihm nicht bloß Deklamation, sondern auch hypokrisis, Aktion: Darstellung in Körperhaltung und Gewandbehandlung, Stimme und Gesten. Es gab drei Hauptgattungen: die Staatsrede, die Gerichtsrede und die Lob- und Prunkrede, von denen Aristoteles sagt, daß die erste sich mit der Zukunft, die zweite mit der Vergangenheit und die dritte mit der Gegenwart befasse. Die Engländer, die die besten politischen, und die Franzosen, die die besten forensischen Redner besitzen, haben sich alle an antiken Vorbildern geschult; das dritte Genre findet seine moderne Fortsetzung in den »Elogen« der französischen Akademiker, den Gedenkreden, den Toasten und vor allem in der Predigt. Im athenischen Gerichtsverfahren mußte der Kläger oder Angeklagte seine Sache selbst vertreten, woraus ersichtlich ist, welche rhetorische Durchschnittsbegabung man ihm zutraute; es gab aber auch Logographen, Redenschreiber, die ihm eine wirksame Rechtfertigung verfaßten und einstudierten, was die Gabe voraussetzte, sich in Charakter, Gesichtskreis und Ausdrucksform des Auftraggebers einzuleben, eine der Komödiendichtung verwandte Kunst. Die Logographie war hoch bezahlt; wenn es aber schon am Beruf des modernen Rechtsanwalts bedenklich ist, daß er jeden Standpunkt bereitwillig einnimmt, indem er dasselbe in dem einen Prozeß vertritt, im andern bekämpft, so 928 gingen seine antiken Kollegen noch weiter, indem sie bisweilen für beide Parteien die Verteidigung schrieben. Viele dieser Gerichtsreden wurden wirklich gehalten, manche aber auch nur als fiktive Musterstücke veröffentlicht, nach Art unserer Liebesbriefsteller und Komplimentierbücher. Das Schema: das Delikt abzuleugnen oder, falls dies nicht möglich ist, als gerechte Tat zu preisen, oder, wenn auch dies nicht angeht, als Versehen oder Bagatelle hinzustellen, hat sich bis zum heutigen Tag erhalten, und die Hauptstücke des Panegyrikos: prooemium, narratio, argumentatio, refutatio, simile, exemplum leben noch in der Chrië fort, die schon solange den Schrecken aller Gymnasiasten bildet. In den technai, den Lehrbüchern der Rhetorik, wurde geradezu zur Hantierung mit einem stets paraten Schatz von Stilblüten angeleitet, wovon ein letztes Überbleibsel der in Deutschland erst Ende des vorigen Jahrhunderts abgeschaffte lateinische Aufsatz war, als Rezept, zu reden und sogar gut zu reden, ohne zu denken. Ein anderer Ableger der antiken Rhetorik ist der Leitartikel, bei dem die Phrase früher da ist als der Gegenstand, der sich dieser anzupassen hat. Klassiker der Prunkrede war Isokrates, der gefeierte Artist der raffiniert gebauten, aber nicht gorgianisch überschmückten Prosa. Er erreichte ein Alter von fast hundert Jahren und tötete sich 338 aus Lebenssattheit durch Verweigerung der Nahrung. Als Politiker war er immer panhellenisch und perserfeindlich gesinnt, erwartete aber die rettende Einigung nur anfangs von Athen, später von Dionysios, zuletzt von Philipp. Daß er seinen Selbstmord kurz nach der Schlacht von Chaironeia verübte, die die Erfüllung seiner Wünsche brachte, zeigt, daß ihm am Schluß eben schon alles gleichgültig war. Philipp verglich sehr treffend die Reden des Isokrates mit Athleten, die nur ein Schaustück seien, die des Demosthenes mit Soldaten. Es waren aber eigentlich überhaupt keine Reden, sondern (da er infolge seiner schwachen Stimme und angeborenen Schüchternheit nicht öffentlich auftrat) 929 Literaturprodukte, politische Broschüren: Isokrates ist der erste große Publizist. Am angesehensten war er aber als systematischer Lehrer der Beredsamkeit, dem die höchsten Kreise zuströmten: Seine Schule war das erste große Konservatorium. Er war bei seinen Zeitgenossen viel berühmter als Demosthenes und Aischines und sogar als Plato, der ihn selber den Philosophen unter den Rhetoren nannte. Was nun jene beiden großen Meister der Staatsrede anlangt (in der Gerichtsrede hat Lysias durch Virtuosität der Einfühlung das Höchste geleistet), so hat die Schwarzweißoptik des Klassizismus den einen als Charakter zu niedrig, den andern zu hoch eingeschätzt, indem sie den Aischines nach den Verleumdungen des Demosthenes und diesen nach der romantischen Tradition der athenischen Partikularisten beurteilte. In Wirklichkeit standen beide ungefähr auf der gleichen moralischen Stufe, indem beide das Beste wollten und keiner von beiden ganz integer war, denn das war damals niemand in Athen. Das heißt, bis auf einen: Phokion, der, von aristidesartiger Hochanständigkeit und timonischer Menschenverachtung, sich bewußt und nicht ohne Pose zur bizarren Genrefigur stilisierte. Er soll sich nie einen Diener gehalten, nie ein Geschenk angenommen, nie ein öffentliches Bad besucht haben (lauter Dinge, die für einen Griechen unvorstellbar waren) und war immer prinzipiell »dagegen«: als man einmal seinen Worten applaudierte, fragte er: »Habe ich denn etwas Falsches gesagt?«, und als das Orakel verkündete, alle Athener würden einer Meinung sein, bis auf einen, sagte er: »Man bemühe sich nicht: ich bin gemeint.« Gerade in solchen »seriösen« Gestalten zeigt sich die organische Verspieltheit des hellenischen Wesens in ihrer stärksten Ausprägung: In dieser Künstlerwelt wird selbst der kalte Asket zum farbigen Komödienhelden und die Tugend zum Aperçu.


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