Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Der erste Professor

Aristoteles, dessen Leben in genau dieselbe Zeit fiel wie das des Demosthenes (384 bis 322) kann nur in einem besonderen und eingeschränkten Sinne der Fortsetzer Platos und ebensogut dessen philosophischer Gegenpol genannt werden. Als er nach Athen kam, um Plato zu hören, war dieser bereits sechzig 937 Jahre alt. Es sind mehrere Aussprüche des Lehrers über den Schüler erhalten, die, ob anekdotisch oder nicht, jedenfalls ein bezeichnendes Licht auf deren Verhältnis werfen. So soll Plato zum Beispiel den Aristoteles die »Intelligenz der Schule« und dessen Wohnung das »Haus des Lesers« genannt haben (was beides wohl nichts weniger als reines Lob bedeuten sollte), und einmal soll er sogar gesagt haben, dieser sei ein Füllen, das die Milch der Mutter trinke und dann gegen sie ausschlage. Daß andrerseits Aristoteles sich während seiner Jugendjahre immer als Jünger Platos empfunden hat, geht schon daraus hervor, daß er nicht nur zu dessen Lebzeiten keine eigene Schule gründete, sondern auch bei dessen Tode Athen sofort verließ, das offenbar für ihn die Anziehungskraft verloren hatte. Erst nach zwölf Jahren, genau um die Zeit, als Alexander seinen Siegeszug begann, kehrte er zurück, um nun weitere zwölf Jahre lang ebenfalls eine Art Welteroberung zu unternehmen, indem er alle Gebiete des damaligen Wissens seinem unglaublich geräumigen Kopf einverleibte und sie auf eine Weise verwaltete und bebaute, die für viele Jahrhunderte vorbildlich geblieben ist. Als beim Tode Alexanders in Athen die antimakedonische Partei ans Ruder kam, entzog er sich einer drohenden Anklage wegen Asebie durch die Flucht, starb aber schon im nächsten Jahre. Was von ihm übriggeblieben ist, sind im wesentlichen Kolleghefte, die keinen Schluß auf seine schriftstellerische Potenz gestatten. Wenn Eduard Schwartz in dem vorhin zitierten Ausspruch (wohl halb scherzhaft) Plato einen Professor genannt hat, so war Aristoteles wirklich einer; sogar in seiner äußeren Erscheinung: er wird als dünnschenklig und spitzbäuchig, glatzköpfig und kurzsichtig geschildert, auch ein Sprachfehler wird erwähnt, den seine Schüler nachahmten (wie auch von manchen Platonikern die gekrümmte Haltung Platos und von Schmeichlern des jüngeren Dionys dessen Kurzsichtigkeit imitiert wurde). Überhaupt scheint selbst dieser Säkulargeist viel von einer 938 Genrefigur gehabt zu haben: man behauptete, er habe viel auf stutzerhafte Kleidung und leckeres Essen gegeben, sich in warmem Öl gebadet und dieses dann wieder weiterverkauft und dergleichen mehr, wovon ein Teil sicher auf die Rechnung der übertreibenden Medisance zu setzen ist, die ja in Hellas besonders stark ausgebildet war; aber ganz ohne Unterlage pflegen solche Klatschgeschichten bekanntlich nicht zu entstehen.

Die Metaphysik des Aristoteles ist eine typische Kompromißphilosophie, ein platonischer Empirismus. Einerseits nämlich läßt er die Ideen als Wesenheiten zweiten Ranges (δεύτεραι οὐσίαι) gelten, andrerseits aber spricht er ihnen die selbständige Existenz ab: die Idee sei nichts anderes als eine überflüssige Verdoppelung durch Hinzufügung des Wortes »an sich« (αὐτό), die Pferdheit bloß das aus allen Pferden abstrahierte »Pferd an sich« (αὐτόϊππος). Volle Wirklichkeit kommt nach Aristoteles nur den Einzeldingen zu; das Allgemeine kann nicht für sich existieren, weil es nichts Substantielles ist, das Wesen kann sich nicht außerhalb der Dinge befinden, deren Wesen es ist, die Ideen können nicht die Ursachen der Erscheinungen sein, da ihnen die bewegende Kraft fehlt. Das sind lauter Argumente der logischen und physikalischen Tiefebene, und den wahren Sinn der platonischen Ideen hat Aristoteles entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Es ist der Sturz des Platonismus in die fruchtbaren Niederungen der Erfahrungswissenschaft. Auch in seiner Auffassung der Materie nimmt Aristoteles eine Mittelstellung ein. Sie ist für ihn nicht mehr, wie bei Plato, das μὴ ὄν, das schlechthin Nichtseiende, sondern das δυνάμει ὄν, das der Möglichkeit nach Seiende, das potentielle Sein; zum ἐνεργείᾳ ὄν, dem in Wirklichkeit Seienden, dem aktuellen Sein, wird sie erst durch die Form, das eidos, das in gewisser Hinsicht die Rolle der Idee spielt. Alle Realitäten sind einerseits eidos, das sie geformt auftreten, andrerseits hyle, Materie, im Hinblick auf ein sie 939 Formendes; so ist zum Beispiel der Balken die Form des Baums und die Materie des Hauses. Alles Werden ist ein solcher Übergang aus der Potentialität in die Aktualität. Das bloß Potentielle ist die Urmaterie, das schlechthin Wirkliche ist die reine Form oder Gott; zwischen diesen beiden Grenzbegriffen liegt die gesamte Erscheinungswelt. Aller Stoff ist auf Form angelegt und die ganze Natur ist Überwindung des Stoffes durch die Form auf immer höheren Stufen: die Tiere sind mißlungene Versuche der Natur, den Menschen hervorzubringen, und zugleich geglücktere Pflanzen, die blutführenden Tiere sind vollkommener, wir würden heute sagen: mehr »in Form« als die blutlosen, die zahmen mehr als die wilden, die Pflanzen mehr als die Gesteine; aber selbst im Reich des Anorganischen schlummert eine Spur von Leben. Die Pflanzen besitzen eine ernährende Seele, die Tiere eine ernährende und empfindende, die Menschen eine ernährende, empfindende und vernünftige. Die Form ist zu gleich der Zweck, auf den hin sich der Stoff organisiert: sie ist bloß physisch das Spätere, metaphysisch das Frühere: so ist, auf das Beispiel des Balkens angewendet, das Haus die Idee des Balkens, die schon vor dem Hause dagewesen sein muß, und ebenso verhält es sich mit dem Balken, der die Idee des Holzes, und mit dem Holz, das die Idee des Samens ist. Wie man sieht, ist hier ein sehr geistreiches und brauchbares naturphilosophisches Schema geschaffen, das aber den Glanz und die Erhabenheit des platonischen Systems völlig vermissen läßt.


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