Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Undine

Das Mittelmeer ist ein sogenanntes »geschlossenes Meer«. Dadurch erhält die Geschichte des Altertums gleichfalls etwas Geschlossenes und Übersichtliches, Prägnantes und Dichtes, Klares und Ebenmäßiges; auch infolge ihrer feinen und scharfen Gliederung sowohl in räumliche wie in zeitliche Abschnitte, die sich einprägsam voneinander abheben. Die Volksindividualitäten des Altertums waren profilierter, umrissener, »charaktervoller« als die heutigen, weil sie noch auf sich selbst und ihre Heimaten mehr angewiesen waren als wir. Sie waren in höherem Maße Gewächse und vollkommenere Gewächse, aber dafür auch erdiger, bodengebundener, ungeistiger. »Alles Schöne ist ein Herausschneiden« sagt Friedrich Theodor Vischer. Dies gelingt bei den antiken Objekten und Subjekten viel besser als bei den modernen. Sie sind dankbarere Gegenstände der ästhetischen Betrachtung, simpler, bildhafter, porträtabler. Gerade ihre Einfachheit ist es, die uns veranlaßt, ihnen eine eigentümliche Größe zuzubilligen. Gestalten wie Homer und Hiob, Zarathustra und Cäsar hat schon das Mittelalter nicht mehr hervorgebracht. Der Mensch Mediterraniens war durchsichtig wie das glasblaue Meer, das ihn geboren hat. Aber er ist auch darin ein Kind des Wassers, daß er gleich Undine, der schönen Seenixe, keine Seele besitzt.


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