Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Homer als Fachmann

Napoleon hielt die Ilias für das Lagerjournal eines Kriegsteilnehmers: eine groteske Annahme, die aber doch in solchem Munde beweist, daß Homer eine militärische Kapazität gewesen sein muß. Auch die Verwundungen sind mit der Sachkunde eines Feldarztes beschrieben, während Virgil von diesen Dingen gar nichts versteht. Aber es gibt wohl kaum etwas, worin 644 Homer nicht Fachmann ist. Welche tiefe Ahnung geheimster physiologischer Vorgänge liegt zum Beispiel darin, daß er die Gemütsbewegungen im Zwerchfell lokalisierte! Das Herz ist ein Pumpwerk, eine Maschinenzentrale, das Hirn ein Telegraphen und Telephonamt, eine Verwaltungszentrale. Unser Seelenorgan ist das Sonnengeflecht. Auch das Harakiri beruht ja auf der Überzeugung, daß der Unterleib (hara) der Sitz der edlen Empfindungen ist; es ist kein einfacher Selbstmord, sondern eine feierlich vor Zeugen vollzogene Handlung, mit der der Schuldige sagen will: meine Seele schämt sich, der Unschuldige: ich zeige euch meine Seele. Hier hat auch das rätselhafte »hysterische Lachen« und das Lachen aus Verzweiflung seine Wurzel: nicht bloß Heiteres ist »zwerchfellerschütternd«. Auch davon weiß schon Homer, wenn er von den Freiern sagt: »Und so lachten sie denn mit fremdverzerrten Gesichtern, schlangen das Fleisch noch blutig und roh und fühlten ins Auge Tränen steigen und ahnenden Jammer im Herzen sich heben«: welche Fülle psychologischer und pathologischer Beobachtung ist in diesem einen Satze!


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