Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die athenische Demokratie

Denn soviel Schlechtes sich auch über die griechische Demokratie sagen läßt: Sie war doch das bizarre Gefäß, in dem allein die Blüte des griechischen Geistes sich zu ihrer einzigartigen Pracht und Fülle zu entwickeln vermochte. Wie die Juden ihr Gesetz auf Moses, so führten die Athener diese Staatsform auf ihren Nationalheros Theseus zurück. Sie beruhte auf den drei Prinzipien der Isonomie, der Gleichheit aller vor dem Gesetz, 808 der Isotimie, des allgemeinen Rechts auf Ehrenstellen, und der Isegorie, der vollen Redefreiheit, das heißt: Jeder Bürger unterlag denselben Bestimmungen, durfte jedes Amt bekleiden und konnte jederzeit öffentlich das Wort ergreifen. Besonders dies letztere, das Xenophon als den Zustand bezeichnete, wo alle Betrunkenen zugleich schreien, galt als das wichtigste Unterpfand der bürgerlichen Freiheit und geradezu identisch mit Demokratie. Die Hauptorte hiefür waren die Volksversammlung und das Volksgericht, zu denen jedermann Zutritt hatte. Die Ratssitzung der ganzen Gemeinde, in der, da alle Stimmen gleich galten, die einfache zahlenmäßige Mehrheit entscheidet, hieß als die Gesamtheit der Ekkletoi, der Herausgerufenen, Ekklesia: in Erinnerung an die Zeit, wo die Teilnehmer von einem Herold eingeladen wurden. Zur Kontrolle dienten Marken; die Abstimmung erfolgte durch Aufheben der Hände oder durch Kieselsteine, Muscheln, Bohnen. Bei Gewitter, Erdbeben, Sonnenfinsternis, aber auch schon bei Regen wurde die Versammlung sofort vertagt, denn dies alles gilt als »Zeichen des Zeus«. Da alle wichtigen Staatsangelegenheiten hier entschieden wurden, so beschränkte sich die Tätigkeit der Behörde im wesentlichen auf die Vorberatung und Ausführung der Volksbeschlüsse. Für die Gerichtssitzungen wurden sechstausend Geschworene ausgelost, die allerdings nur hie und da vollzählig erschienen sein dürften. Da das Urteil vom höchsten Souverän, nämlich vom ganzen Volk, gefällt wurde, war es inappellabel und sofort vollstreckbar. Man kann sich vorstellen, wie unparteiisch es ausfiel. Denn nicht nur handelte es sich um eine glatte Klassenjustiz, sondern auch um eine verantwortungslose, leidenschaftliche erregte Menge, die sich von demagogischen Hetzereien, Advokatenkniffen und Augenblicksstimmungen willenlos treiben ließ. Wenn Plato sagt, daß jede Polis, in der die Gerichte nicht auf die rechte Art bestellt seien, zur »Apolis« werde, so war die athenische Demokratie ein solcher Unstaat.

809 Die Volksversammlung war auch oberste Baubehörde, indem sie die Architekten bestimmte und deren Modelle prüfte, und man fragt sich mit Staunen, was für ein eminent begabtes Volk das gewesen sein muß, das imstande war, Entwürfe zu begutachten und zu korrigieren, aus denen dieses Athen hervorging! Öfter als dreimal im Monat scheinen Ekklesien nicht stattgefunden zu haben; man bedurfte daher für die laufenden Geschäfte gewisser Ämter, zu denen, wie gesagt, jeder Bürger für befähigt erachtet wurde. Damit sich aber nicht mit der Zeit eine selbstherrliche Bürokratenklasse bilden könne, waren die Ämter auf ein Jahr oder noch kürzere Zeit befristet, durften nur einmal oder höchstens zweimal von derselben Person bekleidet werden und wurden durchs Los besetzt, bis auf jene, für die eine gewisse technische Vorbildung ganz unerläßlich war. Jeder Beamte war nach Ablauf seiner Dienstzeit zur Rechnungsablegung verpflichtet: was, ursprünglich als Schutz gegen Unterschleife gedacht, sich allmählich zu einem Werkzeug der Pöbelschikane und parteipolitischen Verfolgung ausbildete. Immerhin müssen alle diese Institutionen ein lebhaftes Interesse, ja sogar ein gewisses Talent für Staatsverwaltung bei der gesamten Bürgerschaft ebensowohl vorausgesetzt als bewirkt haben. Der wesentliche Unterschied von allen modernen, auch den demokratischen Verfassungen ist das Fehlen des Repräsentativsystems, auf dem alle unsere Parlamente und Geschworenenbänke, Wahlämter und Berufsämter aufgebaut sind. Hier ist das Volk immer ganz da, der Wespenschwarm des Aristophanes in seiner ungezügelten Gier, launischen Reizbarkeit und blindwütigen Stechlust, das »große Tier« Platos in seiner unberechenbaren Gefährlichkeit einer Naturerscheinung.


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