Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Demokrits Theorie der Sinneswahrnehmung

Demokrits Theorie der Sinneswahrnehmung paßt aufs beste zu seiner Atomtheorie: nach seiner Ansicht lösen sich Atomkomplexe von den Gegenständen und schlüpfen in unsere Sinnesorgane. Dies erinnert sehr auffällig an Newtons Emissionstheorie, wonach das Licht aus Stoffteilchen besteht, den Korpuskeln, die von den leuchtenden Körpern mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometer in der Sekunde hinausgeschleudert werden; die kleinsten erzeugen das Violett, dann folgt Blau, Grün, Gelb, Rot. Newton hatte dies nur als Hypothese aufgestellt, es wurde aber von seinen Schülern zum Dogma erhoben und blieb während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts die herrschende Anschauung, die erst um dessen Wende von der Wellentheorie abgelöst wurde. Noch merkwürdiger aber ist der Satz des Demokrit: »Nur in unserer Meinung gibt es das Süße und das Bittere, das Warme und das Kalte und die Farbe, denn in Wahrheit gibt es nur die Atome und den leeren Raum.« Er meint damit, daß zwar die spezifische Zusammensetzung der Atomkomplexe die Ursache für die Verschiedenheit unserer Empfindungen bilde, daß aber die Empfindung selbst sich nur im Subjekt befinde und die Gegenstände an sich weder bitter noch süß, warm oder kalt seien, sondern, da sie ja lediglich aus Atomen bestehen, ebenso qualitätslos sind wie diese. Demokrit ist der Begründer des skeptischen Sensualismus. Seine Gedankengänge wurden erst zwei Jahrtausende später weiter ausgebaut, und zwar von Galilei, der 1623 in einer Streitschrift Il Saggiatore (Die Goldprobe) nachwies, daß alle Qualitäten subjektiv und auf quantitative Unterschiede zurückführbar sind: Geschmäcke, Gerüche, Farben, sagt er, sind nichts als bloße Namen, non sieno altro che puri nomi. 1644 ließ Descartes seine »principia philosophiae« erscheinen, worin er ausführte: der Glaube, daß die Wahrnehmung der Dinge so darstelle, wie sie sind, ist ein 871 Vorurteil unserer Sinne; Farbe, Ton, Geruch gehören nicht zur Materie, deren Wesen bloß in der Ausdehnung besteht; der Stein, in Staub verwandelt, hört nicht auf, Stein zu sein, wohl aber, hart zu sein; auch die Farbe gehört nicht zu seinem Wesen, denn es gibt durchsichtige Steine, ja nicht einmal die Schwere, denn es gibt Körper, die nicht schwer sind, wie das Feuer; es bleibt also nur die Ausdehnung. Der große Reformator der Chemie, Robert Boyle, dessen gesammelte Werke 1660 lateinisch herauskamen, gebrauchte als erster die Bezeichnung »primäre und sekundäre Qualitäten«, die sich dann durch Locke in der Philosophie eingebürgert hat. Dieser unterschied in seiner berühmten »Untersuchung über den menschlichen Verstand«, die 1690 veröffentlicht wurde, an den Vorstellungen, die wir von den Objekten haben, die primären Qualitäten, die wirkliche Kopien der körperlichen Beschaffenheiten sind und von den Dingen nicht weggedacht werden können: Größe und Dichtigkeit, Bewegung und Ruhe, Zahl und Figur, und die sekundären Qualitäten, die nur Wirkungsweisen, nicht Abbilder der Dinge sind: hart und weich, heiß und kalt, farbig und tönend, riechend und schmeckend; »gelb«, »warm«, »süß«, »würzig« sind bloße Bewegungszustände in den unserer Wahrnehmung nicht zugänglichen kleinsten Teilchen der Körper, die sich in uns in Empfindungszustände verwandeln. Zwanzig Jahre später erschien Berkeleys Hauptwerk, dessen Grundgedanke sich in dem Satz zusammenfassen läßt: auch die primären Qualitäten sind sekundär: »Undurchdringlichkeit« ist nichts als das Gefühl des Widerstandes; Größe, Entfernung, Bewegung sind nicht einmal Empfindungen, sondern bloße Verhältnisse, die unser Denken den Sinnesempfindungen hinzufügt; ein Körper ist nichts als eine Verbindung von Vorstellungen, a collection of ideas. Den Schlußstein bildet Kants Kritik der reinen Vernunft, die auch die Urformen unseres Vorstellungsvermögens, die Zeit und den Raum, als subjektiv erwiesen hat. 872


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