Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Musik

Ionien ist auch die Heimat der griechischen Lyrik. Die Hellenen haben mit ihrem feinen Sinn für Unterscheidungen die Terminologie der lyrischen Gattungen schon sehr früh ausgebildet. Der festliche Götteranruf hieß Hymnos; galt er dem Dionysos: Dithyrambos; war er dem Apoll geweiht: Paian. Threnoi waren Klage- und Lobgesänge auf Verstorbene, Epinikien Preislieder auf Sieger in den gymnischen Wettkämpfen: wie bereits erwähnt, bestellte Gelegenheitsdichtung, um so bedenklicher, als sie meist gar nicht den Vollbringer der Leistung, sondern den reichen Besitzer der Wagen und Pferde feierte. Mehr heiteren Charakters war das Epithalamion, das Ständchen, das am Abend der Hochzeit den Neuvermählten dargebracht 713 wurde, und das Skolion, das Liedchen beim Gelage. Die Liebespoesie war, wie gesagt, großenteils der gleichgeschlechtlichen Erotik gewidmet; in der hellenistischen Periode beschäftigte sie sich mehr mit der Frau, wurde aber zugleich vielfach Pornographie. Die Lyriker waren Tondichter im eigentlichen Sinne des Wortes, denn der Dichter und der Komponist (und meist auch der Vortragende) waren dieselbe Person: Ein Poet war unter allen Umständen ein Musiker und der Grieche bezeichnete sogar reine Instrumentalwerke als Poeme. Und dazu trat als drittes immer der Tanz: choros heißt Tanzplatz, dann: die Tänzerschar, schließlich die Sänger, der Chor war also ursprünglich Tanzmusik und ist es bis zu einem gewissen Grade in Hellas immer geblieben. Seit etwa 600 wird die Musik die führende Kunst. Um diese Zeit wird die Saitenzahl der Kithara erhöht, die Flöte eingeführt, die Notenschrift erfunden. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß für Dichter wie Anakreon oder Pindar der Text keine größere Rolle gespielt hat als für Richard Wagner: wir können daher über ihre Kunst ungefähr ebenso urteilen, wie wenn wir von diesem nur das Buch des Tristan oder der Meistersinger besäßen.

Das Nationalinstrument der Griechen war das Saitenspiel mit seinen drei Hauptformen: Lyra, Kithara und Harfe. Dazu kamen die drei Blasinstrumente: Syrinx, Aulos und Salpinx. Das erste entsprach unserer Schalmei, das zweite ungefähr der Klarinette, das dritte, die Trompete, wurde nur zu Signalzwecken verwendet. Es gab Kitharodie und Aulodie: Gesang zur Harfe oder Flöte, aber auch Kitharistik und Aulistik, Saitenspiel und Blasmusik ohne Gesang. Der Gesangsvortrag war entweder Monodie des Solisten oder Chorodie von Männern oder Knaben und Jungfrauen, die einstimmig oder in einfachen Oktaven sangen; auch die Instrumente spielten unisono und folgten der Gesangsmelodie, indem sie höchstens ein paar leichte Verzierungsfiguren, ein Vorspiel und ein Zwischenspiel 714 hinzufügten. Dinge wie zweite Stimme, Akkord, Kontrapunkt, polyphones Orchester waren unbekannt. Oder vielleicht waren sie bekannt; aber die Griechen wollten sie nicht, wie sie ja auch die Valeurmalerei abgelehnt hätten und sich die längste Zeit gegen die Perspektive sträubten. Sie hatten einen anderen Harmoniebegriff als wir: er bedeutete für sie mehr, was wir »Proportion« nennen würden: Einklang der Teile mit dem Ganzen und mit sich selbst, mit ihrem Eigenmaß; aber er war von ungeheurer Macht, denn er beherrschte das ganze Weltbild vom Größten bis ins Kleinste. »Harmonie« in diesem Sinne war ein kosmischer und mathematischer, ein architektonischer und physiologischer, ein politischer und ethischer Begriff. Im übrigen kann man sich die Rolle der Musik im griechischen Leben gar nicht groß genug vorstellen. Die Empfänglichkeit und Empfindlichkeit der Griechen für die Macht der Töne muß, nach unseren Begriffen, geradezu pathologisch gewesen sein. Ihre Baukunst war geronnene Musik, ihre Rhetorik war gesprochene Musik. Die Berichte über buchstäbliche Heilungen durch musikalische Behandlung sind zu zahlreich und zu ernsthaft, als daß es sich um bloße poetische Legenden handeln könnte. Daß die Lieder des Tyrtaios den zweiten Messenischen Krieg gewannen, haben wir bereits gehört, und auch sonst wird berichtet, daß das Pfeiferkorps bisweilen zu Land und zur See die Schlacht entschieden habe. Umgekehrt galten »schlechte« Melodien, die lähmend, überreizend oder entsittlichend wirkten, geradezu als Landesverrat. Schon die drei Stilarten, die man unterschied: die zum heroischen Handeln befeuert, die das seelische Gleichgewicht erzeugt und die in Ekstase versetzt, bis zu dem Grad, daß die Seele den Leib verläßt und sich mit der Gottheit vereinigt, zeigen, was man den Tönen zutraute. Sogar zur Pferdepaarung spielten die Griechen Musik: die sogenannte Roßsprungmelodie (νόμος ἱππόδορος) sie glaubten, daß so schönere Füllen entstünden. 715


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