Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Das Paradies der Damen

In der Geselligkeit muß die feinste Etikette geherrscht haben; aber es fehlt ebenso die finstere Unterwürfigkeit Asiens wie das steife und fast lächerliche Zeremoniell Ägyptens, sondern alles ist durchpulst von Heiterkeit, Freiheit, degagierter, sprudelnder Laune. Zwei kleine Bilder zeigen die Hofgesellschaft des Königs Minos, einmal im Palast, einmal im Park: zahlreiche Damen und Herren bieten stehend, sitzend plaudernd und gestikulierend in kapriziösem Durcheinander das Bild einer gelösten und doch beherrschten Festversammlung. Boxmatchs, Scheinturniere, Schautänze scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein; auch Stierkämpfe. Bei diesen dürfte es ganz spanisch zugegangen sein, nur waren die Ausübenden nicht Professionals, sondern Personen der höchsten Kreise, ja sogar Damen. Das Sportgirl ist also, wenigstens soweit die uns bisher bekannte Geschichte reicht, ebenso alt wie der Sportsmann.

Denn dies ist das Allermerkwürdigste an dieser Kultur: Sie ist ausgesprochen »gynäkokratisch«. Soviel wir sehen können, war alles auf die Frau orientiert. Auf allen Darstellungen nimmt sie den bevorzugten Platz ein. Selbst in der Religion spielt sie die Hauptrolle. Die großen Naturmächte sind alle weiblich gedacht: gebärend und schöpferisch; die männlichen Gottheiten treten ganz zurück. Die Seele des Toten, auf einem von Greifen gezogenen Wagen zum Himmel entschwebend, wird von einer Göttin geleitet. Frauen vollziehen den Kult: Es gibt nur Priesterinnen, die Männer sind bloß ihre Gehilfen und tragen beim Gottesdienst weibliche Kleidung. Und auch die Kunst hat etwas ausgeprägt Feminines: in ihrer Aromatik und Musikalität, delikaten Weichheit und verträumten Grazie, 563 geschmackvollen Farbenfreudigkeit und ideenleeren »Kunstgewerblichkeit« und ihrer Scheu vor jeder Strenge der Logik und Architektur und allen Themen des »virilen« Lebens. War Kreta am Ende eine Art Amazonenstaat oder doch wenigstens ein Gebiet des Mutterrechts? Es ist jedenfalls auffallend, daß man dort noch zur Zeit Plutarchs nicht πατρίς, sondern μητρίς: Mutterland sagte. Oder war der Kreter bloß ein so vollendeter »homme à femmes«, daß er alles nach dem Wunschleben der Frau zu gestalten trachtete, und das Ganze nur ein Spiel exquisiter Galanterie?

Das weibliche Kostüm, ebenso raffiniert wie lasziv, wirft alle landläufigen Vorstellungen von antiker Tracht über den Haufen. Die Damen trugen aufs sorgfältigste angepaßte Metallmieder, die die Brüste völlig entblößt ließen, plissierte Krinolinen mit reichen Stickereien und Bemalungen und einer senkrechten Rockmittelfalte, die das Becken betonte, und als Kopfbedeckung aparte Zipfelmützen oder enorme goldgeschmückte Hauben. Es gab Modestücke, wie sie erst wieder in der Neuzeit aufgetaucht sind: hohe Stöckelschuhe, kokette Zuavenjäckchen, Stuartkragen, Paillettenkleider aus Hunderten von Goldscheiben, welche Schmetterlinge, Tintenfische, Palmblätter nachbildeten, extravaganten Hals- und Ohrschmuck im Sezessionsstil und winzigen Hütchen auf Turmcoiffüren, wie sie das second empire eine Zeitlang liebte. Sogar die Statuetten der Göttinnen hatten abnehmbare Fayencekleider, um sich stets in den letzten Neuheiten präsentieren zu können. Im Middle Minoan waren Bubiköpfe die Haartracht, zu anderen Zeiten kunstvolle Frisuren. Die Kleidung der Männer war immer sehr einfach: Sie bestand im wesentlichen aus einem Lendenschurz und hohen, enganliegenden Stiefeln. Auch sie hielten sehr auf Taille und schnürten sich wie die Kavaliere des achtzehnten Jahrhunderts und noch im vorigen Jahrhundert die preußischen Offiziere. Einen Bart haben die Kreter niemals getragen.

564 Nicht bloß in zahlreichen Äußerlichkeiten, sondern auch in ihrem ganzen inneren Wesen hat die kretische Kultur etwas Rokokohaftes: locker und geistreich, tänzerisch und rein dekorativ vermag sie nur in Miniaturen und Anekdoten zu denken. Aber gerade die Vergleichung mit anderen Zeitaltern sollte uns vorsichtig stimmen. Das ausgesprochen Feminine und sogar Dekadente der kretischen Kunst gestattet noch keinen Rückschluß auf die Menschen, die sie schufen. Das Rokoko war doch andrerseits auch das Zeitalter Friedrichs des Großen und der Weltkolonisation. Und, um an ein anderes Beispiel zu denken, die sogenannte Décadence des Fin de siècle hatte zum Hintergrund einen Militarismus und Imperialismus von bisher noch nicht gesehenen Ausmaßen. Daß die Frau dominiert, sagt noch nichts Eindeutiges aus, sondern ist ein gemeinsamer Grundzug aller Kulturen, die ihren Gipfel erreicht oder viel mehr schon ein wenig überschritten haben: es war nicht bloß für das Rokoko physiognomisch, sondern auch für die Alexandrinerzeit und die römische Kaiserzeit, das Hochmittelalter und die Renaissance. Wenn einmal die kretische Schrift entziffert ist, wird man vielleicht noch ein zweites Mal über die Märcheninsel gänzlich umlernen müssen.


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