Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Welt ohne Individuen

Sehr schön sagt Mereschkowskij, der Wille zum nichtigen Riesenhaften, die Neigung zur schlechten Unendlichkeit habe die babylonische Zivilisation vernichtet. Eine gewaltige Kraft ist da, aber ohne ein Ziel, das über sie hinausweist: so lebt sie nur sich selbst und verzehrt sich. Auch ein Gefühl der geheimen Verbundenheit von Erde und Himmel ist da, aber es bleibt im Kosmos befangen und daher unerleuchtet. Darum liegt stumpfe Trauer über allem, was aus dieser Welt hervorgewachsen ist: ihrer Sternenweisheit und Zauberkunde, ihren weltweiten Reichen und wolkenhohen Türmen. Sie ist in noch ganz anderem Sinne anonym als die ägyptische: Wir kennen kein babylonisches Individuum! Es gibt kein einziges babylonisches Bildwerk, das ein Porträt eines einmaligen Menschen wäre, und kein einziges babylonisches Gesicht, das eine Gemütsbewegung ausdrückt! Oder doch: Die Löwen sind manchmal im Schmerz 268 der Verwundung ergreifend gestaltet und die Stiere haben bisweilen ein eigenes Antlitz. Die Seele Mesopotamiens lebte im Tier. Die heraldischen Wesen unserer Münzen, Wappen und Fahnen, seltsame Gebilde einer dumpfen und drohenden Phantastik, sind ein letzter Gruß aus dieser fremden, dunklen Welt. Ein Wildstier und Wüstenlöwe, prächtig und fürchterlich, machtvoll daherbrüllend, aber dem Tode entgegen: Das ist das Sinnbild und mehr als das Sinnbild der Menschheit zwischen dem Persischen und dem Mittelländischen Meer.


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