Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Homer ohne Homer

An der Existenz Homers ist während des ganzen Altertums gezweifelt worden. Als Geburtsort des Dichters wird in der besten Quelle, dem pseudoherodoteischen »Leben Homers«, Smyrna genannt; aber auch in der Schrift über Homer, die Plutarch zugeschrieben wird, und in dem Gedicht über den Sängerkrieg Homers und Hesiods steht Smyrna an erster Stelle. Bekanntlich sollen sich sieben Städte um Homer gestritten haben; in Wirklichkeit waren es noch mehr. Aber der Anspruch Smyrnas ist offenbar berechtigt. Um 500 nennen die Rhapsoden sich Homeriden und rezitieren alle Epen des Kyklos als homerisch. Aber von etwa der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an beginnt sich die Kritik zu regen und alles bis auf Ilias und Odyssee in Zweifel zu ziehen. Eine gewisse Stildiskrepanz, die zwischen diesen beiden Dichtungen zweifellos besteht, 639 erklärte man damit, daß die eine der Jugend, die andere dem Alter des Meisters entstamme. Man verglich die Ilias mit dem blendenden Glanze des Mittagsgestirns, die Odyssee mit dem milden Scheine der Abendsonne. Aber es gab auch schon eine Minorität von Gelehrten, die das Spätwerk einem anderen Dichter zuschreiben wollten und deshalb die Chorizonten, die Trennenden, genannt wurden; die Autorität des Aristarch von Samothrake, eines der bedeutendsten alexandrinischen Grammatiker, brachte sie jedoch zum Schweigen, so daß man im späteren Altertum darauf nur noch im Scherz zurückkam. Gerade diese Ansicht ist aber in der neueren Zeit die herrschende geworden und wird auch jetzt noch von zahlreichen Philologen vertreten. Nicht wenige gehen aber noch weiter, indem sie überhaupt die Einheit der homerischen Dichtungen leugnen. Der erste, der dies tat, war der Abbé François Hédelin d'Aubignac in seiner nachgelassenen Dissertation sur l'Iliade, die 1715, in demselben Jahr wie Popes berühmte Homerübersetzung erschien. Seine These wurde achtzig Jahre später von dem sehr angesehenen Sprachforscher Friedrich August Wolf, dem Begründer der griechischen Literaturgeschichte, wieder aufgenommen, dessen Hauptargument in der Behauptung bestand, das ganze Altertum bezeuge, daß Peisistratos die homerischen Gedichte zum erstenmal sammeln und aufschreiben ließ. Es ist dies aber weder allgemein bezeugt, noch kann es von Peisistratos zum erstenmal geschehen sein. Vielmehr hat dieser, wenn die Nachricht überhaupt wahr ist, die Gesänge, die durch den Einzelvortrag zerstreut worden waren, bloß wieder in Ordnung bringen und schriftlich fixieren lassen. Der künstlerische Instinkt Schillers bezeichnet denn auch diese Hypothese sofort als »einfach barbarisch«, und auch Goethe lehnte sie, nach anfänglicher Zustimmung, als »subjektiven Kram« ab. Übrigens war Wolf seiner Sache selbst nicht ganz sicher, indem er zugab, daß die Ilias dennoch zum größten Teil von einem 640 einzigen Dichter geschaffen sein könne und daß er sie ganz gut als Einheit zu lesen vermöge, wenn er von seinen wissenschaftlichen Bedenken abstrahiere. Trotzdem erregte die Wolfsche Theorie sogleich das größte Aufsehen und hat in allerlei Varianten mit der größten Zähigkeit fortgewuchert. Die wichtigsten sind die folgenden. Die »Erweiterungshypothese« nimmt an, ein alter Grundkern von mäßigem Umfang sei durch stetige Einschaltungen zu seiner jetzigen Gestalt angeschwollen. Pflanzliche und tierische Organismen wachsen bekanntlich durch »Intussuszeption«, indem die neuen Teilchen sich zwischen die schon vorhandenen lagern; bei dem Organismus einer Dichtung aber ist eine solche Vorstellung absurd. Die »Liedertheorie«, begründet von Karl Lachmann (über die im dritten Bande der »Kulturgeschichte der Neuzeit« einiges Nähere bemerkt ist), betrachtet die epische Produktion der Griechen im wesentlichen unter dem Gesichtspunkt der Schneiderwerkstatt, indem sie sie durch Zurechtschneiden älterer Werkstücke zustande kommen läßt, die der Kenner auch wieder herauszutrennen vermöge. Die »Homeridentheorie« vermutet, daß es auf Chios ein Sängergeschlecht gab, das sich nach einem sagenhaften Stammvater benannte: diesem wurden dann die Epen zugeschrieben, die in Wahrheit der Zunftfertigkeit der Erbdichter verdankt werden. Eine derartige genossenschaftliche Produktion mit steigender technischer Vervollkommnung ist bei Leimsiedern und Leinwebern durchaus das Gegebene, auch wohl bei den verschiedenen Branchen des Kunsthandwerks noch einigermaßen denkbar, nicht aber bei Kunstwerken allerhöchsten Ranges. Alle diese Konstruktionen stammen von Personen, die mit umfassendster wissenschaftlicher Sachkenntnis die vollkommenste Ahnungslosigkeit in Sachen der Poesie verbinden.


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