Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Inseln

Lichte Gliederung und leichte Überschaubarkeit ist der Grundzug allen Dichtens und Trachtens der Griechen: ihrer Dramen und Denkgebäude, Tempel und Bilder, Religionsschöpfungen und Gesellschaftsbildungen. Jede griechische Landschaft läßt sich von den Gipfeln ihrer Berge mit einem Blick umfassen und in einer Tagreise zu Fuß oder auf dem Saumtier durchwandern. Und weiter als eine Tagreise ist auch keine griechische Polis von der See entfernt. Die Hellenen waren Meerwesen. Von frühester Zeit an waren sie in die schäumende Flut verliebt, die, in zahllosen schöngeformten Buchten tief ins Land schneidend, von Morgen bis Abend ihre Zauberfarben spielen ließ: glanzblau im Mittagslicht, purpurn und violett bei Sonnenuntergang, grau bei Unwetter, schwarz im Winter. Aber nicht weil der Grieche überall Meer, sondern weil er überall Eilande und Gegenküsten erblickte, hat er so bald im Wasser sein ureigenes Element erblickt, das für ihn nicht eine Welt des Geheimnisses und Schreckens war wie für den Ägypter, sondern ein schmeichlerischer gastlicher Gefährte, der zu leichten Abenteuern lockte. Das griechische Wort für Meer, pontos, ist verwandt mit dem lateinischen pons, die Brücke, und dem griechischen patos, der Pfad. Eine reiche Inselflur erfüllt allenthalben das Ägäische Meer: Reste des versunkenen Festlands »Ägäis«, die sowohl geologisch wie geographisch zu Griechenland gehören. Die Entfernung zwischen Insel und Insel beträgt nirgends mehr als vierzig Kilometer, meist noch viel weniger; da sie sämtlich gebirgig sind, zeichnen sie ihre ragenden Silhouetten weithin in die klare Luft, und so hat der 575 Bewohner dieser Mittelmeergegend nie das Gefühl niederdrückender Einsamkeit und drohender Unendlichkeit, das das Meer andern Völkern so unheimlich macht. Man hat die zahlreichen Landmarken, die sich zwischen der Balkanhalbinsel und Kleinasien hinziehen, mit Postenketten, Meilensteinen, Brückenpfeilern, Kieseln in Bächen verglichen. Gleich gegenüber dem Zentrum von Griechenland liegt die größte Insel des eigentlichen Hellas, lang hingestreckt mit saftigen Weiden und großen Viehbeständen und darum Euboia, die »Rinderreiche«, genannt; an sie schließen sich die Kykladen, so geheißen, weil sie im Kreise um das winzige Delos gelagert sind, einen religiösen Mittelpunkt des alten Griechenlands: Die bedeutendsten Inseln dieser Gruppe waren Paros mit seinem weltberühmten Marmor und Naxos, der Sitz des Dionysoskults. Den Übergang zu Kleinasien bildeten die Sporaden, die »Verstreuten«, mit der Hauptinsel Kos, der Heimat der zartesten Frauengewänder und der geschicktesten Ärzte. Die namhaftesten Inseln an der kleinasiatischen Küste waren das handelsmächtige Rhodos und das seegewaltige Samos, Chios, das die feurigsten Weine, und Lesbos, das die glühendsten Liebeslieder in die Welt sandte. An den Enden lagen im Norden, im »Thrakischen Meer«, das vulkanische Lemnos, Imbros, die Insel des Hermes, Samothrake mit seinen uralten Mysterien und das goldreiche Thasos, südlich des Peloponnes Kythera, wo einst Aphrodite aus dem Schaum der Meerflut ans Licht gestiegen war, und der mächtige Querriegel Kreta, das, mit antiken Maßen gemessen, einen selbständigen Kontinent darstellte; und dazwischen drängte sich eine bunte Vielzahl größerer, kleinerer und kleinster Eilande.


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