Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Kretischer Symbolismus

So sonderbar es klingen mag: Kreta befand sich bereits vor dreieinhalb Jahrtausenden auf dem Wege zum Impressionismus. Ein so empfängliches Auge für Landschaft, Rhythmus, Farbe, Ambiente hat Europa erst wieder gegen Ende der Neuzeit entwickelt. Andrerseits aber hat die kretische Malerei niemals versucht, die Schicksale des Lichts und Schattens mit dem Pinsel wiederzugeben: sie behalf sich mit flachen kolorierten Stuckreliefs, bei denen die Beleuchtung diese Nuancen von selbst erzeugte; und auch die Begriffe der Perspektive waren ihr noch ebenso unbekannt wie allen Völkern jener Zeit: Nirgends findet sich ein Ansatz zu Tiefenstaffelung und Raumdarstellung. Es fehlt, wie Arnold von Salis in seinem ausgezeichneten Werk Die Kunst der Griechen mit Recht bemerkt, die Grundbedingung des Impressionismus, die optische Totalität: »Die Szene ist nicht bedingt durch die Gestalt des Lokals, sondern umgekehrt, das Bild wird nachträglich, zum Zweck der Raumfüllung, mit landschaftlichen Fetzen garniert.« Bisweilen wirken die knossischen Gemälde wie jene raumverhöhnenden Fieberträume, die der Futurismus uns beschert hat. Waren die Kreter also am Ende gar Expressionisten?

Jedenfalls hat sich im Late Minoan, seit etwa 1500, abermals ein neuer Stil entwickelt (Evans nennt ihn den »Palaststil«, weil zu jener Zeit die kretischen Paläste ihren höchsten Glanz entfalteten), den man geradezu als hypermodern bezeichnen muß. Die Ambition, eine illusionistische Wirkung zu erzielen, wird 558 fallengelassen; der Naturalismus gefriert zum Schematismus. Es ist eine Rückkehr zum Linearstil der Stufe vor der Kamareszeit, aber auf einer höheren Schraubenwindung der Entwicklung: was dort Primitivität war, ist hier bewußtes Raffinement. An die Stelle der »Programmalerei« tritt eine »absolute Malerei«, die ihr Thema in bloßen Spannungen und Entspannungen von Linienrhythmen erblickt, die nur das symbolische Diagramm und stenographische Sigel der Erscheinungswelt gibt und die »Farbe an sich« malt, als eine Idee der Schöpfung, losgelöst vom Dienst der Form. Daß daneben aber immer noch ein lebenswarmer und wirklichkeitsfroher Realismus bestand, zeigt ein Salbgefäß aus Speckstein, mit Goldblech überzogen, das in Hagia Triada gefunden wurde, einem einstigen Lustschlößchen der Fürsten von Phaistos. Ein Trupp Erntearbeiter marschiert nach Hause, die Heugabeln geschultert, an der Spitze vergnügt schmunzelnd der Aufseher, in der Mitte eine Gruppe von Sängern, aus vollem Halse zum Takt des Sistrums plärrend, das ein dickbäuchiger Alter schwingt. Dahinter immer dichteres Gedränge: Einer ist gestürzt und hat im Fall das Bein seines Vordermanns erwischt, der sich halb entrüstet, halb belustigt umdreht. Im ganzen siebenundzwanzig Figuren: nicht zwei haben dieselbe Körperhaltung oder denselben Gesichtsausdruck, und doch wirkt der ganze Zug als einheitlicher, von einem gemeinsamen Rhythmus getragener Organismus von abwechslungsreich gegliedertem Tempo. Einzelne Visagen erinnern direkt an Wilhelm Busch.


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