Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Traumstadt

Im Gegensatz zu den Mykenern haben die Kreter ihre Städte niemals befestigt: Nirgends gab es Mauern, Türme, Fluchtburgen, selbst die kleinen Inseln vor der Nordküste lagen ungeschützt. Dies setzt eine überragende Seemacht voraus; auch England hat im Innern des Landes keine Festungen. Die Straßen waren gut gepflastert, aber sehr schmal: nur ein bis zwei Meter breit. Unter dem Pflaster befanden sich Abflußleitungen für Regenwasser. Das beliebteste Baumaterial war der Lehmziegel, der in dem warmen und sonnigen Lande sehr rasch an der Luft trocknete, und der prachtvolle kreideweiß leuchtende Gipsstein, der in Fülle vorhanden war. Dicht drängten sich die mehrstöckigen Häuser aneinander, ihr Antlitz nach innen kehrend, im Gegensatz zu den festländischen Bauten, die den Eintretenden mit Vorhallen und Kolonnaden empfingen. Eine Fassade fehlt vollkommen, die schmale Tür ist nicht selten in eine Seitengasse verlegt. Auf Hügeln lagen die riesigen Paläste. Um einen rechteckigen Zentralhof gruppierten sich in verwirrender Masse Zimmer und Korridore, Lichtschachte und Treppenhäuser, Pfeilersäle und Magazine; ein großartiges System tönerner Rohre sorgte für frisches Quellwasser; die 560 Badezimmer waren aufs komfortabelste ausgestattet. Und was noch vor kaum einem halben Jahrhundert das Monopol Englands und einen Gegenstand seines Nationalstolzes bildete: auch das W. C. fehlte nicht! In den unteren Etagen befanden sich Werkstätten, Küchen mit sinnreichen Apparaten zum Sieden, Seihen, Pressen, Filtern und Vorratskammern mit mannshohen Tonnen, die Öl und andere Lebensmittel enthielten. Die Wohnräume waren meist klein, gewährten aber, da die Wände durchbrochen waren, herrliche Durchblicke und Fernsichten und waren allenthalben mit Landschaftsbildern bedeckt, die die Farbenpracht der Wiesenflora und Meeresfauna bis ins Haus trugen. Je tiefer unser Auge ins Altertum dringt, desto fadenscheiniger wird die Neuzeit. Wie der Pharus den Eiffelturm und die Cheopspyramide den Gotthardtunnel, so beschämt Knossos Versailles. Auch auf Kreta atmete alles genießerische Daseinsfreude, wählerische Lebenskunst, den raffinierten Boudoirgeist einer späten und schon überzüchteten Kultur. Alles ist verspielt, improvisiert, fast gedankenlos: Sogar die Architektur ist ganz impressionistisch auf den Moment gestellt, Raum wächst an Raum lediglich durch »Apposition« wie bei einem Kristall. Es fehlt, wiederum im bezeichnenden Gegensatz zum Festland, jeder Wille zur Monumentalität, ja auch nur zur Übersichtlichkeit. Es ist eine Traumwelt: schwebend und schaumgeboren, ohne festen Fuß in der Realität, wie aus der glitzernden Laune eines übermütigen Geisterwesens gesprungen; und wie durch Zauberschlag ist sie auch wieder in die Erde gefahren. So ähnlich mag sich im Kopfe Shakespeares jene Märchenstadt gemalt haben, in der Theseus und Hippolyta ihre sagenhafte Hochzeit feierten.


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