Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Der aristotelische Rationalismus

Eine der bedeutendsten Leistungen des Aristoteles ist seine Logik. Er hat unter anderem die Tafel der zehn Kategorien aufgestellt, jener allgemeinsten Begriffe, unter die alle Gegenstände unseres Denkens fallen müssen; sie heißen: Wesen, Quantität, Qualität, Beziehung, Ort, Zeit, Lage, Zustand, Tun, Leiden. Ferner hat er die drei obersten Denkgesetze der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten statuiert; sie lauten: alles Wahre muß mit sich selbst 940 übereinstimmen; ein und demselben kann unmöglich ein und dieselbe Bestimmung zukommen und nicht zukommen; zwischen den Behauptungen einer Kontradiktion kann nichts in der Mitte liegen, sondern was die eine bejaht, muß die andere verneinen. Auch hat er eine vollständige Theorie der Urteile und Schlüsse, der Beweise und Definitionen und der wissenschaftlichen Einteilungen und Methoden gegeben. Seine Stärke und Einseitigkeit lag eben überhaupt auf dem rationalen Gebiete. Die menschliche Glückseligkeit definierte er als ψυχής ἐνεργεία κατὰ λόγον, vernunftmäßige Aktivität der Seele; alle anderen Lebensgüter seien, wie er mit einem schönen Bilde sagt, im Verhältnis dazu, was die Theaterausstattung, χορηγία, für die Tragödie. Auch sein Stil ist durch eine große Meisterschaft in der Prägung und Handhabung scharf umschriebener Begriffe, aber auch durch eine ebenso große Kargheit, Trockenheit und Unsinnlichkeit gekennzeichnet und nicht selten gelehrtenhaft geschachtelt und schleppend, wobei man allerdings bedenken muß, daß wir von ihm bloß Repetitorien für Schüler besitzen, die wahrscheinlich gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, während so kompetente Beurteiler wie Cicero und Quintilian an seinen früheren Schriften, die ausnahmslos verlorengegangen sind, die Fülle und Anmut der Sprache rühmten; es wird sich hier vielleicht ähnlich verhalten haben wie mit Kant, der die Gabe lebendiger und flüssiger Darstellung in reichem Maße besaß, aber in seinen systematischen Hauptwerken mit Absicht zurückschob. Die geniale Phantasiekraft Platos, die alles, was sie berührt, zum Blühen bringt und alle Höhen und Abgründe der menschlichen Geisteslandschaft durchmißt, kann aber Aristoteles in keiner seiner Schöpfungen besessen haben, wie er denn wohl überhaupt keine Künstlernatur war, obgleich seine ästhetischen Urteile das reifste und feinste Einfühlungsvermögen bezeugen. Er war ein großartiger Sammler, Kritiker und Organisator und in erster Linie Naturforscher, 941 das Wort im weitesten Sinne genommen. Bei der Beurteilung dessen, was er geleistet und nicht geleistet hat, darf man nicht außer acht lassen, daß ihm nahezu alle Hilfsmittel fehlten, über die die moderne Wissenschaft verfügt. Das Altertum besaß nicht nur keine Thermometer und Barometer, Lupen und Fernrohre, Probiergläser und Präzisionswaagen, sondern nicht einmal eine richtige Uhr. Man zählte sechs Vormittagsstunden (von Sonnenaufgang bis Mittag), sechs Nachmittagsstunden (von Mittag bis Sonnenuntergang) und zwölf Nachtstunden; die Stunde war also an jedem Tag verschieden lang und die Differenz zwischen der kürzesten und der längsten betrug mehr als das Doppelte. Den Gegensatz dazu bilden unsere stets gleichen Äquinoktialstunden, die aber wieder höchst unnatürlich sind. Bei Zeitangaben begnügte man sich mit ganz allgemeinen Begriffen: Morgen, Nachmittag, Abend, Marktstunde, Marktende. Sonnenuhren gab es von alters her, Sanduhren waren unbekannt. Bei Gerichtsverhandlungen bediente man sich der klepsydra, der Wasseruhr, mit der dem Sprecher die Redezeit zugemessen wurde; neben ihr stand der Wasserwart, ὁ ἐφ᾽ ὕδωρ; bei Verlesung von Urkunden und Vernehmungen von Zeugen wurde die Uhr gestoppt: der Redner rief dann dem Sklaven zu: »ἐπίλαβε τὸ ὕδωρ, halte das Wasser an!« Er hatte also, wenn ihm zum Beispiel eine Stunde zugebilligt war, im Juni fast anderthalb Stunden zur Verfügung, im Dezember noch keine drei Viertelstunden. Um hier einen Ausgleich zu schaffen, hätte man genaue Tabellen für das ganze Jahr besitzen müssen, die es offenbar nicht gab. Auch Verabredungen konnten unter diesen Umständen nur ganz approximativ getroffen werden und »militärische Pünktlichkeit« in Schulen, Ämtern und Arbeitsbetrieben war ganz unmöglich. Der Begriff der Minute oder gar der Sekunde und ihrer Bruchteile war überhaupt unbekannt und ein exaktes Experimentieren mit Reaktionszeiten und Ähnlichem daher ausgeschlossen. Man muß sich 942 mit dem Gedanken vertraut machen, daß die Antike ein ganz anderes Zeitgefühl besaß als wir oder vielmehr, an uns gemessen, überhaupt kein Zeitgefühl. Eine Welt ohne Zifferblatt, durch die niemals eine Glocke hallt und niemals ein Pendel tickt, in der niemand eine Uhr in der Tasche hat und keiner weiß, wie viel es geschlagen hat, hat für uns etwas gespenstisch Leeres.


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