Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Homer als Rundbildner

Aber eben durch das Epos haben die Griechen doch auch wiederum eine Art Gemeinsprache besessen. Denn Homer war eine hellenische Vulgata. »Diesem Dichter«, sagt Plato, »verdankt Griechenland seine Bildung.« Man hat die Ilias einen Ritterspiegel genannt, aber sie ist ebensosehr ein Volksspiegel, 636 ein Weltspiegel; und die Odyssee ist eines jener seltenen Weltmärchen, in denen alles Menschliche versammelt ist. Als Sinnbild alles Griechischen gilt mit Recht Homer. In Homer erreicht das plastische Genie der Griechen gleich am Anfang ihrer Geschichte seinen höchsten Gipfel. Homer ist Plastiker und nichts als das; in seiner marmornen Pracht und Kälte, seinen wenigen, aber sehr glänzenden Grundfarben, seiner Komposition, die zumeist nur Einzelfiguren kennt und sie, wo sie Gruppen bilden, linear und symmetrisch anordnet: in Giebeln, Streifen und Stockwerken und sogar in seinen Gleichnissen, die als stehende Embleme und regelmäßige Verzierungen das Relief rahmen und begleiten. Landschaft, Witterung, Jahreszeit: Alles was zur »Atmosphäre« gehört, fehlt; denn diese Dinge liegen außerhalb der Darstellungsmöglichkeiten der Skulptur. Alles ist von scharf umrissener strenger Eindeutigkeit, alles ist Gestalt; während die christliche Poesie (und alle moderne Poesie ist christlich) den Menschen als gestaltlose Unendlichkeit erblickt. Die Irrfahrten des Odysseus sind Bilder, die faustischen Sinnbilder; in der Ilias ist auch das Wunderbarste wirklich, in der Wildente auch das Alltäglichste Legende. Homers Helden sind von einer natürlichen Überlebensgröße. Ihre unwahrscheinliche Körperkraft und Schnellfüßigkeit macht sie nicht zu Fabelwesen, und ihr monströser Appetit nach Ruhm und Rache, Blut und Braten verleiht ihnen nichts Pathologisches.

An die Rundbildnerei gemahnt uns auch der Hexameter mit seiner majestätischen Strömung und seiner klaren Gliederung sowie die Formelhaftigkeit der Wendungen und Beiwörter, die weder Versteinerungen eines gedankenlosen Traditionalismus noch Eselsbrücken für das Gedächtnis der Hörer und Sänger sind, wie man wohl angenommen hat, sondern Äußerungen eines ganz bestimmten Kunstwillens. Wenn der Betende auch am hellen Tage die Hände zum »gestirnten Himmel« erhebt 637 und Nausikaa die »glänzenden Gewänder« zur Wäsche führt, so haben dies die Griechen sicher auch schon bemerkt, ohne daß es sie besonders befremdet hätte. In einer Welt, die so durchblutet ist von Wirklichkeit, sind Gewänder eben immer glänzend und die ewigen Sterne immer da.

Im siebenten Jahrhundert bereits genoß Homer die größte Verbreitung, die ein volles Jahrtausend anhielt; seit dem sechsten Jahrhundert wurden von Staats wegen alle vier Jahre an den Panathenäen seine sämtlichen Werke durch Rhapsoden zum Vortrag gebracht; seit dem fünften Jahrhundert war er Schulbuch, aus dem die Kinder Religion und Geschichte lernten, und als Zitatenschatz (auch schon als parodistischer) in aller Munde; auch wurde er, ganz in der Art unseres »Bibelstechens«, als Orakel benützt, und noch in der griechischen Spätzeit erzeugte die Wertschätzung, die man jedem seiner Worte entgegenbrachte, die Wissenschaft der Philologie. An Ilias und Odyssee schlossen sich die »kyklischen Dichter«, so genannt, weil sie den ganzen Sagenkreis behandelten, der die beiden homerischen Epen umrahmte: die Veranlassung des Krieges, die Kämpfe Achills mit der Amazone Penthesileia, die Eroberung Ilions, die Schicksale der heimkehrenden Atriden und noch vieles andere. Wir wissen von den Kyklikern nur durch die fragmentarische Chrestomathie des Proklos, den Prosaauszug eines nachchristlichen griechischen Grammatikers, zu dessen Zeit sie noch erhalten und auch viel gelesen waren, aber, wie Proklos selbst sagt, weniger wegen ihres poetischen Werts als wegen ihres reichen mythologischen Stoffs. In der Tat haben Bildhauer und Vasenmaler, Lyriker und Tragiker aus ihnen fleißig geschöpft, während ihre künstlerischen Qualitäten von den antiken Kritikern fast einstimmig ziemlich niedrig eingeschätzt wurden. Ebenfalls nur in dürftigen Bruchstücken erhalten ist das komische Epos »Margites«, das sehr alt gewesen sein muß, da schon Archilochos, der um 650 lebte, daraus einen 638 Vers entlehnte, und nicht unbedeutend gewesen sein kann, da bis in die Spätzeit Homer als sein Verfasser galt. Sein Held ist ein Tölpel aus reicher Familie, der alles verkehrt macht und selbst in der Brautnacht nicht weiß, was er mit seiner jungen Frau anfangen soll: »viele Dinge verstand er, doch schlecht verstand er sie alle.« Aus einer viel späteren Zeit, wahrscheinlich aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, stammte die Batrachomyomachie, der »Froschmäusekrieg«, eine Travestie auf die Ilias, deren dreihundert Verse vollständig, obschon in sehr verderbter Gestalt, überliefert sind. Die Schilderung, wie die Frösche mit Helmen aus Schneckenhäusern und Speeren aus spitzen Binsen, vom feindlichen Herold Topfschlüpfer herausgefordert, gegen die nußbehelmten, bohnengepanzerten Mäuse und ihren König Nagebrot unterliegen, während auf Anraten der Athene, die den Mäusen zürnt, weil sie ihr den Peplos zernagt haben, aber auch den Fröschen, weil sie sie im Schlaf stören, der Götterrat neutral bleibt und erst zuletzt die rettenden Krebse aufbietet, ist vor allem ergötzlich durch die gelungene Persiflage des homerischen Pathos und der epischen Diktion.


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