Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Das »olympische Ilion«

Der früheren Geschichtswissenschaft galt es für ganz selbstverständlich, daß der Inhalt einer Sage oder gar einer Dichtung nicht wahr sein könne. Schon Thukydides lehnte Homer als Gewährsmann ab, und die Sophisten erklärten die gesamte Heldensage für ein Phantasiespiel der Poeten, das diese ersonnen hätten, um ihre Lebensweisheit in eine gefällige Form zu kleiden. Noch weiter gingen die Stoiker, indem sie in den mythischen Gestalten bloße Allegorien erblickten, Verkörperungen von ethischen Potenzen oder Naturmächten. Und noch das 551 neunzehnte Jahrhundert war so skeptisch, daß man selbst nach Schliemanns Ausgrabungen die Behauptung hören konnte, das homerische Troja werde ebensowenig gefunden werden wie der Nibelungenschatz im Rhein. Aber lernt man nicht noch immer die englische Geschichte am besten aus Shakespeares Königsdramen und erlangt man aus Schillers Wallenstein und Maria Stuart nicht auch heutzutage das klarste und wahrste Bild des inneren Sinns der Geschehnisse, wenn auch viele Äußerlichkeiten sich von jedem Gymnasiasten widerlegen lassen? Und so sollte man, solange nicht strikte Gegenbeweise auftauchen (und es ist sehr unwahrscheinlich, daß dies jemals der Fall sein wird), auch die Ilias für eine Art Lehrbuch der griechischen Geschichte halten. Ja, warum sollte nicht sogar in der so anekdotisch anmutenden Erzählung vom Kriegsanlaß ein realer Kern stecken? Eine starke politische Spannung zwischen Mykenai und Troja bestand schon längst: die mächtige Seeburg verlegte den Griechen den wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer und den Kornländern Südrußlands. Alles drängte auf eine Auseinandersetzung: jede zufällige Erschütterung konnte zur Explosion führen. Gerade die größten historischen Bewegungen sind oft aus relativ geringfügigen Ursachen entstanden. Der Thesenanschlag zu Wittenberg, der Fenstersturz zu Prag, die Erstürmung der Bastille, die Emser Depesche und selbst die Ermordung des österreichischen Thronfolgers standen zu dem, was sie auslösten, in keinem Verhältnis. Und so liegt es auch durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß zehn Jahre um Troja gekämpft wurde, weil ein trojanischer Prinz eine griechische Königin entführte. Ob es freilich gerade zehn Jahre waren, ist wieder eine andere Frage. Und ob es mehr als ein Raubzug war, steht ebenfalls dahin. Jedenfalls ist es den Griechen damals noch nicht gelungen, sich in Kleinasien festzusetzen; wahrscheinlich lag dies auch gar nicht in ihrer Absicht: Es genügte ihnen, die lästige Meerengensperre gebrochen zu haben. 552 Einzelwahrheiten darf man, wie gesagt, von Homer nicht verlangen. Sie waren ihm vielleicht sogar bekannt; aber er hat sich durch sie nicht verwirren lassen. Er hat Historie in dem höchsten, ja einzigen Sinne, nämlich in der Form von »Dichtung und Wahrheit« gegeben, ganz wie Goethe in seiner Selbstbiographie, die über alle literaturhistorischen »Feststellungen« hinweg immer die reinste und richtigste Darstellung seines Lebens bleiben wird. Die Schichtbefunde werden alle dreißig Jahre etwas anderes erzählen; Achill und Hektor waren vor ihnen da und werden nach ihnen da sein. Alexander schöpfte bekanntlich die Begeisterung zu seinem Märchenzug aus der Andacht vor den Trümmern Ilions; er opferte jedoch dem Schatten seines großen Ahnherrn an einer »falschen Stelle«! Aber die Stelle war schon richtig: Sie befand sich in seinem Herzen. Denn was er suchte und fand, war ja nicht das irdische Ilion, das, auch als es noch herrlich stand, nur ein kümmerlicher Erdenrest war, sondern das »olympische«, das er ebenso in seiner Seele trug wie die Christen das himmlische Jerusalem.


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