Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Mathematik der Pyramide

Die vier Seiten der Cheopspyramide sind genau nach den vier Himmelsrichtungen gestellt. Ein von Nord nach Süd durch die Spitze der Pyramide geführter Schnitt deckt sich mit der Ebene des sogenannten »idealen Meridians«, der über die meisten Kontinente und die wenigsten Meere geht. Der Eingangsstollen in die unterirdische Grabkammer, die den Pharao beherbergte, hatte eine Neigung von 27 Grad. Nun hat man berechnet, daß zur Zeit des Cheops der Stern XXX im Sternbild des Drachen der Polarstern war. Die Höhe seiner unteren Kulmination war 27 Grad: also fielen seine Strahlen direkt auf den toten Pharao, den »irdischen Polarstern«. Unser Sonnenjahr hat 365,242 Tage. 199 Dividiert man die genaue Seitenlänge der Pyramide durch diese Zahl, so erhält man eine Größe, die sich in den Ausmaßen der Gänge und Kammern in auffallender Weise wiederholt und die man deshalb »Pyramidenmeter« genannt hat. Dieser Pyramidenmeter ist genau der zehnmillionste Teil der halben Polarachse der Erde. Teilt man den Pyramidenmeter in weitere 25 Teile, so gelangt man zum »Pyramidenzoll«. Der Umfang der Grundfläche der Cheopspyramide beträgt 36524,2 Pyramidenzoll: es kehrt also die Zahl der Jahrestage wieder. Multipliziert man die Höhe der Pyramide mit einer Milliarde, so ergibt sich die Entfernung der Erde von der Sonne, eine Zahl, zu der die heutige Astronomie erst nach langen Irrwegen und mit Hilfe der kompliziertesten Apparate gelangt ist. Nur der banalste Philister könnte hier von lauter Zufällen reden, und mit Recht hat der Abbé Moreux, der Leiter des Observatoriums in Bourges, gesagt, daß alle Eroberungen der modernen Wissenschaft sich in der Pyramide finden. Die berühmtesten Astronomen der Welt: Newton, Herschel, Flammarion und andere, haben sich sehr ernsthaft und eingehend mit dem Rätsel der Pyramide beschäftigt.

Und wie viele Erkenntnisse mögen noch in ihr schlummern, die wir nicht nachzuprüfen vermögen, aus dem einfachen Grunde, weil wir selber nichts von ihnen wissen! Merkwürdig bleibt nur, daß sich weder in der Literatur noch auf den bildlichen Darstellungen die geringste Anspielung auf diese Weisheiten findet. Es scheint sich also um Priestergeheimnisse gehandelt zu haben. Im alten Orient war die Wissenschaft keine demokratische Angelegenheit. Vielleicht auch ist all dies sehr bald selbst den Eingeweihten abhanden gekommen; denn nur an der Cheopspyramide hat man bisher solche überraschende Beobachtungen machen können. Die ägyptische »Frühzeit« war möglicherweise keine Ouvertüre, sondern ein Finale.


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