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188. Müller an Bonstetten

Cologny, den 17ten Jan. 1776.

Ihr Brief, mein Herzensfreund, macht mich etwas unruhig, oder besser zu sagen, ich bin nicht wohl mit Ihnen zufrieden, erstlich, weil Sie ihn solchergestalt petschirt haben, daß ich einen Theil desselben nicht lesen kann. Zweitens, weil Sie – ich will nicht sagen, bewußten langweiligen Verdrüßlichkeiten nicht mit genügsamem Muth widerstehen, sondern weil Sie die Waffen wegwarfen, mit welchen Sie diese Feinde Ihrer Glückseligkeit – und warum sage ich nicht, unserer? – überwinden könnten. Warum mein edler und vertrauter Freund, erleichtern Sie Ihr Herz nicht durch öftere Ergießungen Ihrer unangenehmen Gefühle in dem Busen Ihres Freundes? Warum zerreissen Sie Briefe, welche mir eine schmeichelhafte Probe Ihrer Freundschaft, Ihnen aber (nach Art der menschlichen Natur, welche sich durch Mittheilung schmerzhafter Gefühle der größten Last derselben entladet) ein Labsal für Ihre bekümmerte Seele seyn müßten? Ich sage Ihnen hiemit ernstlich, daß ich nicht zufrieden bin, daß Sie mir nicht öfter, nicht vertraulicher klagen! Fürchten Sie im Enthusiasmus Ihres Schmerzes mir Unsinn zu schreiben? In diesem Fall müssen Sie eine sehr geringe Meinung von mir haben, der ich Ihnen so oft und so ungeduldig geklagt und keine meiner verborgensten Schwächen vor Ihnen verhehlt habe. Erinnern Sie sich, daß der Zweck unserer Freundschaft nicht ist, einer dem andern einen hohen Begriff von seinen Eigenschaften zu geben; (wenn ich nicht wüßte, daß Sie große besitzen, so hätte ich mich nicht auf lebenslänglich mit Ihnen verbunden) sondern uns einander in jeweiliger Gestalt unsrer Seelen zu zeigen. Damit einer den andern ermuntre, oder belehre, oder ansporne oder tröste. Bedienen Sie sich, mein B., meines Herzens als einer Freistadt Ihrer geheimsten Ungeduld, oder Langenweile, oder Unentschlossenheit, und tragen Sie zu meinem Glück bey, indem Sie mir Gelegenheit geben, Sie an unsre philosophischen Grundsätze zu erinnern, oder auf andere Weise Ihnen zu rathen, oder wenn ich nicht anders kann, Sie zu trösten und mit Ihnen zu weinen. Also, mein Freund, lassen Sie sich durch den verhaßten täglichen Anblick so vieler Schwachheit, ja Bosheit der menschlichen Gattung nicht von Ihrem sichern Freund verscheuchen; und beweisen Sie mir durch die Frepmüthigkeit und Herzlichkeit Ihrer Briefe, daß Sie zu andrer Zeit, wenn ichs bedarf, mich auch in Ihr Herz aufnehmen würden, im Fall ich mich klagend an Sie wendete. Mein Freund, ich liebe die Tugend, und suche durch dieselbe meinen Zeitgenossen schätzbar und der Nachwelt, wenn ich auf dieselbe kommen sollte, ehrwürdig zu werden. Unter allen gesellschaftlichen Verbindungen ehre ich vorzüglich die Freundschaft, weil sie durch Wahl errichtet, und nicht, wie die Blutsverwandtschaften, durch Zufall veranstaltet wird, und weil sie in diesen Zeiten wegen ihrer Seltenheit unter der allgemeinen Verstellung unschätzbar geworden, endlich weil sie der Sporn zu den schönsten Handlungen und die größte Süßigkeit des Lebens, ja die vornehmste Erleichterung so vieler Klagen ist. Tugend und Freundschaft, mein Lieber, müßte ich entweihen, wenn ich Sie, Sie meinen ersten, meinen edlen, zärtlichen, vertrauten und so sympathetischen Freund nicht wie mich selber liebte, und alles, was ich habe und vermag, nicht ebenso wohl in Ihren, als meinen Nutzen verwendete und die Zeit, welche mir zu meinem Leben bestimmt ist, nicht eben so wohl für Sie als für mich selbst lebte. Oben gedachte Unvorsichtigkeiten, welche ich der Seuche gewisser neuen Philosophen und der Neuerungssucht unerfahrner Jahre zu danken habe, verbessere ich täglich, und wenn ich noch nicht ganz bin, was ich seyn sollte, so werde ichs doch bald werden.

Ich komme noch einmal auf die Stelle Ihres Briefes zurück: Je vous ai écrit dans mon désespoir, mais je ne vous ai pas envoyé ma lettre. Warum nicht, mein theurer Freund!

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