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115. Voß an Brückner

Göttingen, den 20. März 1775.

Da hast du einen Brief von dem herlichsten Mädchen, das jemals die Sonne gesehn hat. Du liebst doch deinen Freund? Zittre vor Freuden, daß ich von diesem Mädchen geliebt, so von ganzer Seele geliebt werde! Du stelltest dir ein solches Mädchen nur in Träumen der Dichtkunst vor, sagst du? Du mußt besser träumen können, als ich. Das reizendste Ideal, das mein Geist in den heiligsten Stunden der Weihe sah, ist nur ein Schatten von den Vollkommenheiten, die ich in Ernestinen fand. Den? nicht, daß der Liebhaber spricht. Selbst im Taumel der Liebe giebt es kühlere Augenblicke, wo man urtheilen kann. Aber Urtheil und Empfindung bleibt Eins, und strömt gleich stark in dem Flammenmeere der Liebe, Klopstock sagt von seiner Cidli: »Sie konnte mit Portia sagen. Es schmerzt nicht!« Ernestine kann's auch. Wie oft hat sie mich Kleinmütigen durch ihre Standhaftigkeit und durch ihr Vertrauen auf Gottes Fügung beschämt! Wie oft hat sie mich an. den Tod erinnert, und mich mit ihrer ewigen, ungehinderten Liebe jenfeit des Grabes aufgerichtet! Wie sorgfältig hat sie mir ihre Thränen verborgen, sie, die meinetwegen ihre Röthe verloren, tiefsinnig geworden, und eine Ohnmacht gehabt hat! Lange hinterher erfuhr ich dies erst, und daß dies ihr größter Kummer wäre, daß ich, ohne sie, vielleicht glücklich und zufrieden hätte leben können. Und bei so außerordentlicher Seele, so ganz Natur und Grazientanz, und selbst so unbekannt mit dem, was sie hat, und was, still wie die Gottheit, allmächtig unsre Seelen zur Höhe des Serafs emporhebt! Ach Brückner, wenn ich auch früher stürbe, ehe wir unzertrennlich verbunden würden, ich wäre doch einer der seligsten Liebenden gewesen. Eine Thräne um sie ist mehr Werth, als alles, was die Welt sonst hat! Ach und ihre Thränen um mich! – Die Zeit, wann ich sie wieder sehe, liegt ganz in der Nacht der Ungewißheit. Gott wird mir ja winken, wenn's Zeit ist, denn er wacht für uns.

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