Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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14.

Neun Uhr abends.

Aus Barmherzigkeit! Aus Liebe! Lesen Sie, lesen Sie!

Seit fünf Uhr unterwegs, komme ich eben heim. Ich habe die vier qualvollsten und verdrießlichsten Stunden meines ganzen Lebens hinter mir: zwei bei Herrn Sabourrain, den ich im Auftrage des Grafen Saint-Germain aufgesucht habe, und zwei bei Herrn Joly de Fleury, um die bekannte Verfügung der Kriegsschule zu besprechen, zu erörtern, zu erläutern. Noch nie habe ich meine Geduld und meinen Verstand so zusammennehmen müssen, um mich durch all den schwierigen Formelkram dieser Dienststelle durchzuwürgen. Ob etwas Leidliches zustande gekommen ist, weiß ich nicht. Meine Fähigkeiten waren dauernd durch den Gedanken an Sie verwirrt und abgelenkt. Ich bin beinahe gestorben vor Sehnsucht, wieder bei Ihnen zu sein, zu Ihnen zu eilen, um zu wissen, wie es Ihnen gehe.

Endlich bin ich zu Haus. Man gibt mir Ihren Brief. Sie bitten mich, ihn zu lesen. Grausames Geschöpf! Ich habe ihn gelesen, dreimal gelesen, ihn in meinen Tränen gebadet! Ihr letzter Wille! Allein die Überschrift hat mich durchschauert. Das ist der Schatten des Todes! Ich Armer, was habe ich Ihnen getan? Sie stürzen mich in Verzweiflung.

Nicht aus Mitleid, nicht aus Menschlichkeit beschwöre ich Sie: Bleiben Sie am Leben! Vielmehr aus Eigennutz. Sie sind der Preis, die Vorbedingung meines eigenen Lebens! Beste Freundin, ich liebe Sie, ich liebe Sie! Wären Sie bei mir, unter Tränen würden diese Worte aus tiefster Seele zu Ihnen dringen!

Abermals lese ich Ihren Brief. Ich bin zerschlagen. Aber so schuldig, wie Sie vermeinen, bin ich nicht! Ich habe Sie immer geliebt. Ich habe Sie geliebt vom ersten Augenblick an, seit ich Sie kenne. Ihretwegen habe ich am Leben gehangen. Nur Ihretwegen. Und ich muß es Ihnen sagen, denn wenn ich in den Grund meines Herzens hinabtauche, so finde ich das als meinen tiefsten Gedanken: wenn ich zu wählen hätte zwischen Ihrem Tode und dem Verluste von allem, was mir lieb und wert ist, ich würde nicht zögern. Nun sterben Sie, Grausame! Wollen Sie mich vernichten mit dem Vorwurf, ich sei es, der Sie töte? Ich habe nicht die Kraft, noch mehr zu sagen. Die Tränen überwältigen mich...

Geben Sie mir Antwort, wenn Ihre Seele noch einigermaßen empfänglich ist! Schreiben Sie mir! Ich leide mehr denn Sie. Ich habe kein Opium, das mich berauscht oder mich beruhigt. Alle meine Sinne, meine volle Gesundheit, meine ganzen Kräfte vereinen sich, mir Ruhlosigkeit und Leid zu bereiten. Schreiben Sie mir ein einziges Wort!

Wie spät es auch sein wird, daß ich aus Versailles zurückkehre, ich komme noch zu Ihnen. Gewiß, und wenn es noch so spät sein sollte. Also auf Wiedersehen! Ach, Ihr Herz lauscht meiner nicht mehr! Es ist zu Eis erstarrt.

Ich bitte Sie um ein einziges Wort!

Hippolyte.


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