Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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196.

Mittwochs, elf Uhr. [März 1776]

Warum argwöhnen Sie, ich hegte ein häßliches Gefühl? Sehen Sie mich doch genauer an. Hätte ich Kraft dazu, selbst wenn ich Lust dazu verspürte? Und dann gehörte doch ebensoviel Unart wie Ungeschicklichkeit dazu, Empfindlichkeit an den Tag zu legen, wenn man wie ich an einem Punkte angelangt ist, wo man keine Abwehr und keine Rache mehr begehrt. Lieber Freund, ich sterbe. Damit ist alles andere abgetan!

Aber wissen Sie, Ihnen wäre die schreckliche Stimmung, die Sie in mir argwöhnen, dienlich. Als Gegenmittel zu der Ihrigen. Die Gefahr, in der ich schwebe, hat ein altes Gefühl in Ihnen wieder etwas auflodern lassen. Das müssen Sie wieder ersticken. Seien Sie kalt und hart, meiden Sie ein Geschöpf, das nur noch Trübsal und Grauen um sich verbreitet. Kurz, Sie müssen sich in eine Stimmung bringen, in der Sie gegen alles Leid gefeit sind, wenn das Ende vom Liede da ist.

Diesen Rat gibt Ihnen mein Edelmut und meine Fürsorge um Ihren Seelenfrieden. Er kommt mir aus tiefstem Herzen. Widersetzen Sie sich nicht aus moralischen Gründen, mein Lieber. Man ist dem nichts mehr schuldig, der auf alles verzichtet hat. Sie sehen es. Meine Seele ist keinem Trost mehr zugänglich. Kaum wage ich, mir etliche Augenblicke der Linderung meiner körperlichen Leiden zu versprechen. Ich halte sie für ebenso unheilbar wie die meines Herzens.

Gute Nacht!

Ich habe viel auszustehen. Ich wünsche, daß Sie nicht das Gleiche von sich sagen können. Würde es Ihnen viel Mühe machen, die fünfzehn bis achtzehn Briefe zusammen zu suchen, die Sie noch von mir haben? Der Gedanke, es könnte jemand drittes darüber verfügen, befällt mich häufig, und bei meinem Zustande ist mir das schmerzlich.

Denken Sie daran, daß morgen Ihr Donnerstag ist! Sie vergessen es, aber ich muß mich dessen erinnern.


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