Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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63.

Mittwoch, 6. Oktober 1774.

Lieber Freund, ich habe keine Nachricht von Ihnen. Ich wartete auf welche. Ach, auch nach der schwächsten Hoffnung fühlt man die Enttäuschung, und der noch so gering illusionsfähige Mensch neigt viel zu stark zu Einbildungen. Verzeihung, mein Lieber, meine Sehnsucht nach Ihnen rechnet zu viel mit dem gleichen Gefühl in Ihnen. Auch von diesem Irrtum muß ich mich befreien.

Ich bin krank, in einem Zustand unbeschreiblichsten Leidens. Jede Art Nahrung verursacht mir die gleiche Beschwerde. Mein Arzt schließt daraus, daß der Pylorus [der Magenpförtner] nicht in Ordnung sei. Ein mir bisher unbekanntes Fremdwort. Diese Störung foltert einen geradezu. Ich nehme Schierling ein. Könnte er mir bereitet werden wie dem Sokrates, ich wollte ihn mit Vergnügen nehmen! Er würde mich von dieser schleichenden, so grausamen Krankheit heilen, die man das Leben nennt.

Wenn ich meine Augen auf die Vergangenheit richte, so erkenne ich, welch ein großes Glück es für mich gewesen wäre, wenn mein Dasein am Mittwoch den 1. Juni 1774, zu Ende gegangen wäre. Welchen Schmerzen, welchem Leid wäre ich entronnen! Ach, ich schaudere, wenn ich bedenke, daß ich alles, was ich seit jenem verhängnisvollen Tage gelitten habe, Ihnen zuschieben muß. Sie sind im Irrtum. Mein Tod wäre für Sie kein Unglück gewesen. In diesem Augenblick, wo ich zu Ihnen rede, hätten Sie dann keine Erinnerung mehr an mich. Sie hätten mich längst vergessen, Sie erfreuten sich Ihrer Ruhe und genössen das Leben. So aber überschütte ich Sie mit Klagen und wälze die Last meines Daseins auf Ihre Seele. Ich kenne sie; sie ist verständig, stark und heldenhaft. Sie wäre großer Opfer fähig, um mein Unglück zu erleichtern, aber es liegt nicht in Ihrem Charakter, mir süßen Trost und sanften Frieden zu spenden. Das ist etwas Unmögliches für Sie. Ihr feuriges Herz weiß nicht, was Zärtlichkeit ist. Die Leidenschaft kommt herbeigestürmt mit großer Gebärde; die Zärtlichkeit dagegen sorgt, möchte helfen und trösten. Sie würde mir jeden Posttag einen Brief senden, weil sie weiß, was sich eine leidende Seele ersehnt.

Das soll kein Vorwurf sein. Er wäre nutzlos und kränkte nur. Ich wäre trostlos, wenn ich Ihnen auch nur eine Minute Kummer verursachte. Ich hätte nur gern gewußt, ob Ihr Fieber vorüber ist.

Als ich Ihnen das letztenmal schrieb, war ich wohl im Delirium. Die Fieberglut währte die ganze Nacht. Als sie nachließ, wich auch jene Erscheinung. Ich begreife nur nicht, warum sie meine Seele mit Angst erfüllt hat.

O, wenn ich Moras Leben nur auf eine glückliche Stunde zurückkaufen könnte! Ich wollte jede Todesqual dafür mutig ertragen. Aber das wollte ich Ihnen nicht sagen. Ich verliere die Besinnung, ich kann nicht weiter schreiben. Leben Sie wohl!

Sonnabends mitternachts.

Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Tinte bleich ist wie das Papier. Heute machte mich das wirklich unwillig. Ich hatte mir Ihren Brief zu Turgot nachbringen lassen, wo ich mit zwanzig Personen zu Tisch war. Man gab mir ihn während des Essens. Zur einen Seite von mir saß der Erzbischof von Aix, auf der anderen der neugierige Abbé Morellet. Ich machte meinen Brief unter dem Tischrand auf. Was da schwarz auf weiß stand, konnte ich kaum erkennen. Der Abbé meinte es auch. Frau von Boufflers, die neben dem Erzbischof saß, fragte, was ich hätte.

»Denken Sie daran, wo wir sind«, gab ich zur Antwort, »und Sie werden wissen, was ich lese!«

»Ah, zweifellos ein Gesuch an Herrn Turgot?«

»Sehr richtig, gnädige Frau. Ich will es erst lesen, ehe ich es ihm gebe.« So habe ich meinen Brief gelesen. Jetzt will ich darauf antworten, wenn auch flüchtig, denn ich bin todmüde. Ich habe mich heute überanstrengt.

Ich habe mit tausend Leuten geplaudert. Und da ich durch Ihren Brief guter Laune geworden war, habe ich bei meinem Schwatzen vergessen, daß ich halbtot bin. Nun bin ich es ganz. Tatsächlich, ich habe große Erfolge gehabt, weil ich aller Leute Trefflichkeit und Geist da um mich gewürdigt habe. Ihnen, lieber Freund, Ihnen verdanken sie diesen ihrer Eitelkeit so süßen Zeitvertreib.

Meine Eitelkeit berauscht sich selbst am Lob von Ihnen nicht. Ich antworte Ihnen immer wie Couci:

Lieben Sie mich, Durchlaucht, aber loben Sie mich nicht!


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