Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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53.

Montag, den 19. September 1774, am Abend.

Ich will Ihnen schreiben. Ich muß Ihnen antworten. Wenn ich die morgige Post nicht benutze, müßte ich bis Sonnabend warten. Ich habe Ihren Brief eben nochmals gelesen. Ich dachte, er solle mich begeistern, aber keineswegs: ich fühle mich gräßlich nüchtern. Überzeugen Sie sich selbst:

Alle Betrachtungen, die Sie über Ihre gegenwärtige Lebenslage anstellen, sind höchst vernünftig. Aber wenn Sie sich nun einmal mit der Zukunft beschäftigen, so müssen Sie Dinge in ihr wahrnehmen, die Ihnen weit mehr Anlaß zu Hoffnungen als zu Befürchtungen bieten. Es scheint mir, als ob tüchtige Leute zu keiner Zeit goldenere Wege vor sich hätten als gerade jetzt. Der Tüchtigkeit, dem Verstand und den Talenten steht alles offen. Wir leben nicht in einer Zeit, wo man mutlos zu sein braucht, nein, man muß mit Vertrauen kommen, nicht um Gunst und Gnade bitten, sondern zeigen, was man kann, und sich Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Herr von Vaines könnte Ihnen förderlich sein, wenn auch nicht unmittelbar, so doch durch seine Freunde. Er würde das Unmöglichste tun, um Sie sich zu verpflichten. Er hat eine ausgesprochene Vorliebe für Sie. Jedesmal, wenn er mich sieht, erkundigt er sich nach Ihnen. Am Tage Ihrer Abreise hat er mir unter anderem geschrieben: »Ich bitte, geben Sie mir Nachricht von sich und auch von Herrn von Guibert, der alle die in hohem Grade interessiert, die eine freimütige Feuerseele lieben, die auf allen Wegen dem Ruhm entgegenstürmt.« Ich wollte Ihnen diese Zeilen längst schicken, wurde aber durch einen Umstand daran verhindert, der mir stumm zu sein gebot. Sie sollten Herrn von Vaines schreiben; nicht wegen seiner finanziellen Macht, davon kann keine Rede mehr sein: er hat sein Interesse seinem Freunde Turgot und dem Allgemeinwohl zum Opfer gebracht. Kurzum, er war von dem Wunsche beseelt, um das Höchste zu wetteifern; ein idealer Drang hatte ihn ergriffen. Ein wenig ruhiger geworden, hat er eingesehen, was für eine schreckliche Bürde er auf sich genommen hat.

Ich kämpfe durchaus nicht gegen Ihre Zukunftspläne. Ich selber habe ja keine. Es wird Ihnen also wohl einleuchten, daß ich mich nicht besonders aufrege, wenn bei Anderen davon die Rede ist. Im allgemeinen bin ich überzeugt, daß es gut für Sie wäre, keine Dame aus der Provinz zu heiraten. Allerdings wäre es ein Mittel, Ihr unstetes Wesen zu fesseln. Es wäre aber doch insofern ein Unglück für Sie, als es Sie des höchsten Gutes beraubte: der Hoffnung. Mein lieber Freund, ich begreife nicht, daß Sie nicht genug Kraft haben, um schlechte Vermögensverhältnisse zu ertragen. Paris ist der Ort der Welt, wo man arm sein kann und doch dabei nicht allzuviel entbehrt. Nur der Griesgram und der Tor bedürfen des Reichtums. Ebenso braucht man keine Reise um die Erde gemacht zu haben, um ein gutes Buch zu schreiben. Setzen Sie sich nur immer an die Arbeit. Ehe das Buch fertig ist, sind Sie vielleicht reich genug, um Ihre Reise zu, machen. Ich wünschte, Sie sähen den Mangel an Vermögen nicht für ein Unglück, höchstens für ein Hindernis an. Von hoher Warte herab ziehe ich Ihre Fähigkeiten allen Reichtümern des Bankiers Beaujon vor. Die Freude an der Wissenschaft ist mir lieber als der Posten des Großstallmeisters von Frankreich. Mit einem Worte: wenn ich verdammt wäre, weiter zu leben, und ich könnte mir nicht das Schicksal eines braven Landmanns in der Normandie wählen, so würde ich mir den Geist und die Fähigkeiten des Herrn von Guibert erbitten, aber nur unter der Bedingung, daß ich etwas mehr Gebrauch davon machen dürfte.

Was Sie mir von den Kindern Ihrer Frau Schwester schreiben, das bezeugt Ihre große Anteilnahme und Ehrbarkeit, aber, mein lieber Freund, Sie beunruhigen sich doch auch hier allzusehr um die Zukunft. Das sind jetzt noch Kinder. Sie sind zu schwarzseherisch, und das peinigt Sie. Vielleicht haben diese Kleinen das Glück, dem Stumpfsinn des Lebens zu entrinnen. Und sind es Durchschnittsmenschen – und darauf kann man doch in der Regel wetten –, warum soll das Mädchen dann nicht in einem Kloster glücklich werden, ohne daß man es gerade gewaltsam dazu bestimmt? Das Schicksal des Knaben ist noch weniger bedenksam. Sie wissen besser als ich, daß die Erziehung in einem Provinzgymnasium ebensogut oder ebensoschlecht ist wie in einem Pariser. Und dann, mein Freund, wenn er als Sechzehnjähriger in irgend ein Regiment eintreten soll, dann ist es wirklich ganz belanglos, ob er in Bordeaux oder in Paris erzogen worden ist. Wie falsch sind unsere Vorstellungen über die Grundlagen des Lebens, über das Glück! Du lieber Gott, was hat das individuelle Glück damit zu tun, ob man den Geist gedrechselt bekommt oder ob einem die Leuchten der Wissenschaft vorenthalten bleiben? Ich glaube ja, ersteres ist im allgemeinen sehr nützlich, aber warum soll Ihr Neffe, der vielleicht gar kein Geisteslicht ist, gerade auf diese Weise glücklich werden?

Meine Antwort auf alle die Einzelfragen, die Ihre Freundschaft, Ihr Vertrauen mir vorgelegt hat, ist, ich fühle es, sehr nüchtern, sehr beschränkt. Aber was soll man tun? Mir fällt nichts Gescheites ein. Meine Seele ist eine Wüste, mein Kopf hohl wie eine Laterne. Alles, was ich sage, was ich höre, ist mir so gleichgültig! Ich würde dieselbe Antwort geben wie jener Lebensüberdrüssige, dem man vorwarf, warum er sich nicht totschösse: »Ich tue es nicht, weil mir Tod oder Leben einerlei ist!«

Allerdings paßt das nicht richtig auf mich, denn ich leide, und der Tod wäre mir eine Erlösung. Aber ich bin zu keiner Tat fähig.


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